Der Künstler und der Ewige Prozess

Der Wiener Künstler Stylianos Schicho arbeitet mit Gegensätzen: Nähe und Distanz, Intimität und Isolation. Den Betrachter macht er stets zum Teil seiner Werke. Für die Forbes Under 30-Kampagne stellte er eines seiner Werke zur Verfügung. Wir haben Schicho in seinem Atelier besucht.

„Sobald ich so weit bin, dass ich etwas über meine Arbeit formulieren kann, bin ich eigentlich schon zu spät dran. Ich bin quasi stets ein bisschen hinterher; denn die relevanten Dinge passieren viel weiter vorne auf der Zeitachse“, sagt Stylianos Schicho – und schaut einen fragend an, ob man diesem, seinem ersten Gedanken überhaupt folgen kann. Es geht.

Er versuche, über seine Kunst so intuitiv zu sprechen, als ob er eines seiner Bilder male, sagt er. Am liebsten will er aber wissen, was jemand eigentlich sieht, der seine Arbeiten zum ­ersten Mal betrachtet. Und: „Am liebsten würde ich selbst meine Bilder zum ersten Mal sehen, was natürlich nicht geht, weil man bereits seine Stunden an Sehkilometern zurückgelegt hat und ab ­einem Punkt nur noch sieht, was man eben sieht. Irgendwann gewöhnt man sich an gewisse Wahrnehmungen – das ist für mich oft schwierig“, so Schicho. Der Künstler ist stets auf der Suche nach einem Bruch, einer neuen Blickachse, einem Fehler im System, um daraus einen nächsten Begriff in seinem zeichnerischen Vokabular zu formen.

Schichos Arbeit ist keine gesellige: „Man ist meistens allein“, sagt er. Irgendwann ­mache sich dann schon auch das Gefühl breit, dass es gut ist, wenn man das, was man tut, auch teilen kann. „Aber dieses Schicksal teile ich vermutlich mit vielen“, so Schicho. Beim Arbeiten hört er gerne Radio. Er schaut auf den Boden, eine Katze kommt näher. Schicho hat zwei davon – die nachtschwarze Juli und den rothaarigen ­August.

Stylianos Schicho wurde 1977 in Wien geboren; seine Mutter ist Zypriotin, sein Vater war Oberst bei der Wiener Polizei, zuletzt bei der ­Kriminalpolizei im 14. Bezirk. Das Malen hatte er zunächst nicht wirklich auf dem Schirm – obwohl er sich genau daran erinnern kann, mit neun oder zehn Jahren aus einem dicken Buch über die ­Secession Gegenstände abgezeichnet zu haben. „Es hat mir gefallen, die Dinge, die mir aufgefallen sind, für mich noch einmal zu reproduzieren. Ich habe mir die Sachen hergezeichnet“, erinnert er sich.

Dieses Talent wurde von seinen Eltern zwar erkannt, in der Schule mit bildnerischem Zweig aber nicht sonderlich gefördert, blickt er zurück. Nach der Matura entschied er sich erst mal für ein Jus-Studium: „Ich war jung und wollte mit meinem Freundeskreis zusammenbleiben.“ Er merkte dann aber schnell, dass er sich extrem anstrengen musste, um nur halbwegs gute Noten auf die Prüfungen zu bekommen; ein Freund, der heute als Anwalt tätig ist, sei hingegen im Studium immer mehr aufgeblüht. Eine Freundin hat ihn dann schließlich auf die „Angewandte“ (Universität für angewandte Kunst in Wien) aufmerksam gemacht. Dort hat er die Aufnahmeprüfung versucht – und wurde gleich genommen. Danach gab es in gewisser Weise kein Zurück mehr.

In Schichos Werken geht es stark um die Auseinandersetzung mit Gegensätzen: das Individuum und das Kollektiv; die Nähe und die Distanz; die Intimität und die Isolation. Dabei ist es ihm gleichermaßen wichtig, was im Bild selbst passiert und was davor. Der Betrachter vervollständige sein Werk, meint Schicho: „Das Bild ist erst dann vollständig, wenn jemand davorsteht.“

Die Szenen in seinen Arbeiten, die häufig in Diptychen oder Triptychen übereinander zusam­mengestellt sind, sind meist dicht gedrängt – etwa ein Ausschnitt aus einer mit Passagieren überfüllten Flugzeugkabine oder eine Menschenmenge in einem Spielcasino, zugestellt mit einarmigen Banditen. Alle stehen dicht aneinander, der Betrachter nimmt die Perspektive einer Überwachungskamera ein; ein Blickwinkel, der die Köpfe der Gemalten – speziell ihre Augen – sehr groß und nahe erscheinen lässt.

Die Blicke von Schichos Protagonisten sind oft durchdringend, die Figuren kommen dem ­Betrachter gefühlt sehr nahe. Nähe sei ein Stil­mittel, mit dem er gerne arbeite, so Schicho –

er erklärt den Effekt des optischen Eindrucks anhand ­eines praktischen Beispiels: „Wenn wir beide uns unterhalten, dann tun wir das in der Regel in einer bestimmten Distanz; meistens ist das etwa eine Armlänge.“ Er streckt seinen Arm aus. Seine Bilder zeigen, was passiert, wenn man seinem Gegenüber um etwa eine halbe Armlänge näher­ kommt. Schicho beugt sich nach vorne – so ­entsteht eine Situation, in der man in einem Gespräch normalerweise wieder einen halben Schritt zurücktreten würde; was man beim Betrachten der Werke aber nicht tut, zumal sich dieser Schritt auch als sinnlos erweisen würde.

In gewisser Weise zwingt der Künstler seine Betrachter also, genau hinzusehen. „Meine Bilder brechen diese Distanz; diese halbe Armlänge, diese 30 Zentimeter weniger, erzeugen eine ganz andere Nähe.“ Kenner sprechen hier vom „Stylianos-Effekt“.

Abstrakt und gegenständlich, diese Kategorien sind für mich immer schwierig.

Stylianos Schicho

Diese Darstellungen sind Momente, die er gesehen, mitgenommen und in seinem Atelier noch einmal neu erschaffen hat. Diese Menschengruppen stellt er immer wieder neu zusammen. „Gefühlt hat man so was wie eine Schuhschachtel vor sich und stellt darin die Figuren immer wieder neu auf. Ich muss auch sagen, dass ich immer die gleichen zehn Personen male, die aber von mir immer wieder andere Rollen zugeteilt bekommen.“ Er fühlt sich dann wie ein Theatermacher, einer, der mit seiner Commedia dell’arte von einem Ort zum nächsten fahre, um immer neue Stücke in unterschiedlicher Besetzung aufzuführen. „Diese zehn Figuren sind so etwas wie meine Belegschaft, mit der ich in meiner Firma arbeite“, grinst er – und schließt ein wenig den Bogen zur Under 30-Kampagne, für deren visuelles Kam­pagnendesign er 2024 eines seiner Werke zur ­Verfügung stellte. Manchmal fließen die Figuren ineinander und es entstehen neue Formen und Möglichkeiten.

„In einer gewissen Harmonie muss es auch einen Bruch geben, einen Punkt, an dem man loslassen kann; einen Fehler, durch den die Möglichkeit entsteht, etwas zu riskieren, und der einem hilft, einen Schritt weiterzugehen“, verliert sich Schicho kurz in seinen Gedanken. So entwickle sich eine eigene Sprache; ein Vokabular, mit dem man seine Geschichten erzählen könne.

Meistens malt Schicho Serien in der Größe von fünf oder sieben meist mannshohen Bildern, wie eine Art Story in einem Magazin. Dieser ­einen Story folgt dann gleich die nächste, wobei er aus der vorigen Serie ein Bild stets in die neue mitnimmt – was aber häufig nur für ihn Sinn ergibt: „Ich habe eine Serie gemalt, die ‚Elevator Paintings‘ hieß. Da ging es um den Aufzug an sich, den ich als Metapher mag: Er bringt dich von einem Ort zum nächsten, gleichzeitig hast du dort aber auch eine Art erzwungene Nähe; es gibt diese Aufzugmusik, die dich beruhigt und auch nervt. Also wieder dieses Spiel mit den Gegensätzen. Und dann gibt es dort die Schaltflächen – und aus diesen einzelnen Formen baue ich dann das nächste Bild auf und nehme so etwas aus der vorigen Serie in die neue mit.“

Über die Jahre hat sich Schichos Stil weiter­entwickelt, mit dem Begriff Abstraktion kann er aber wenig anfangen: „Abstrakt und gegenständlich, diese Kategorien sind für mich immer schwierig.“ Er spricht lieber von „sublimiert“.

Beim Zeichnen sei er oft auf der Suche nach dem perfekten Strich bzw. „diesen paar Strichen, die alles beinhalten“. Von den ausgemalten Figuren früherer Szenen sind heute ihre Andeutungen in Form von kreisförmigen Krägen – wie jenen von Rollkragenpullovern oder den weißen Krägen in den Porträts der Alten Meister – geblieben. Schicho: „Der Kreis ist eine sehr vollkommene Form; symbolisch betrachtet repräsentiert der Kreis sehr viele dieser Schnittmengen, etwa aus Nähe und Distanz. Das war für mich insofern wichtig, als ich innerhalb meines Kreises die Regeln wieder brechen konnte und ich letztlich auch versucht habe, den Kreis ganz wegzulassen. Man sieht im Endeffekt Linien, man sieht Schultern, den Teil eines Rollkragens als Umriss. Letztlich habe ich mich wieder ‚reingelegt‘, indem ich meine Figuren auf dem Bild vereint habe, obwohl ich sie nicht sehe.“

Schicho grinst zufrieden. Kater August ­nähert sich; direkt zuvor untersuchte er die Kameralinsen in der Ausrüstungstasche des ­Fotografen, während seine Schwester Juli direkt in den Strahl des Lichtballons schaute. Die Tiere sind Besuch gewohnt: Am Tag zuvor etwa waren zehn fremde Menschen im Atelier – und die Katzen mittendrin im Geschehen. Die beiden sind neugierige Mitbewohner.

In Schichos Atelier gibt es nicht nur für Fellnasen viel zu entdecken: Im Eingangsbereich sind rund zwei Dutzend Keramiken in Luftpolster­folie gepackt, im Eck steht eine zum Kleider­ständer umfunktionierte Staffelei mit Blaumann zum ­Malen und einer Gorillamaske; Schichos Fahrrad lehnt daran. Auf einer Art Küchenwagen steht das Malwerkzeug in Bechern, Schachteln; ein paar Farbtöpfe; gleich daneben eines seiner wichtigsten Arbeitsutensilien, ein mannshoher kipp­barer Spiegel, mit dem er sämtliche Perspektiven in seinen Bildern nachstellen kann. Über dem Türrahmen am anderen Ende des Raums steht in Schneckenform gut zwei Dutzend Mal „Bitte Bitte Bitte“. Trotz der vielen Gegenstände, die sich neben- und übereinander zu stapeln scheinen, wirkt Schichos Arbeitsraum aufgeräumt; ein Ort, an dem es sich gut alleine arbeiten und der den Besucher neugierig werden lässt.

Worauf er, also Schicho selbst, sehr neugierig war, ist die Verfremdung seines Werks, das er für die Forbes Under 30-Kampagne zur Verfügung gestellt hat. „Ich finde es spannend, auch Details aus einem Bild zu nehmen, um mit diesen weiterzuarbeiten. Ich habe in dieser Hinsicht keine Berührungsängste.“ Es sei auch insofern aufregend, als dieses Werk Teil eines größeren war und nun ein anderes dafür nachgerückt ist – und so quasi ein ganz neues Bild entstanden ist. Schicho: „Es ist ein weiterer Moment, an dem man seine Sehgewohnheiten loslassen kann. Das Ganze funktioniert wie eine Art Bausatz, der sich ständig erweitert. Es ist ein ewiger Prozess.“

Stylianos Schicho (Jahrgang 1977) absolvierte sein Studium der Malerei und Graphik an der Universität für angewandte Kunst in Wien (Professor W. Herzig). Er lebt und arbeitet in Wien.
www.stylianosschicho.com
www.instagram.com/stylianos.schicho

Fotos: Gianmaria Gava

Heidi Aichinger,
Herausgeberin

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