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Richard Lehner ist nicht nur eine Bergsteigerlegende, sondern auch Chef einer der modernsten und nachhaltigsten Höhenunterkünfte der Welt, der Monte-Rosa-Hütte im Wallis. Doch wie erlebt der Schweizer die dramatischen Folgen des Klimawandels in den Alpen? Und was kann man in der Matterhorn-Region über das Leben der Zukunft lernen?
Es dröhnt am Himmel über Zermatt. Unser Helikopter knattert durch das Tal – über Holzhäuser, Grandhotels und amerikanische Reisegruppen hinweg – zum Gornergletscher. Aus Wald wird brauner Fels, dann von Moränen zerklüftetes Eis. Wir gehen in den Sinkflug, im Bergmassiv vor uns blitzt etwas Silbernes in der Mittagssonne: Ein Haus, geformt wie ein Kristall, verkleidet mit glänzendem Aluminium, schält sich aus der Steinwüste. Wir sind am Ziel – willkommen auf der Monte-Rosa-Hütte.
Kaum hat der Helikopter aufgesetzt, reißt Richard Lehner die Tür auf und duckt sich unter dem Wind der Rotorblätter. Die Luft ist klar und kalt an diesem Herbsttag, der Winter ist nah. Lehner ist Hüttenwirt, Unternehmer, Bergführer und Retter bei der Air Zermatt, der berühmten Notfall-Helikopterflotte. Der 50-Jährige ist ein groß gewachsener Mann, dem die Jugendlichkeit des ewigen Naturburschen im Gesicht sitzt. Unter Alpinisten gilt er als Legende, das Herz der Schweizer Alpen ist sein Zuhause. Doch die Bergidylle, über der das ikonische Matterhorn thront, wandelt sich in diesen Tagen immer mehr zum Klimakrisengebiet. „Die Hütte ist nicht nur eine Bergunterkunft für Alpinisten, sie ist auch ein Zukunftslabor und eine Forschungsstation“, erklärt Lehner. Denn hier oben auf 2.883 Metern lässt sich nicht nur die Schönheit der Alpen bewundern – auch die Gefahren des Klimawandels sind sichtbar. Die Monte-Rosa-Hütte des Schweizer Alpen-Clubs gilt als eine der modernsten und nachhaltigsten Bergunterkünfte der Welt. Bis heute ist das Haus ein Leuchtturmprojekt für das Bauen und Wohnen der Zukunft. Die markante Herberge wurde zum 150. Geburtstag der ETH Zürich von den Forschern der Uni konzipiert und ist seit 2009 viel mehr als eine gehobene Bergunterkunft. Die Hightech-Hütte symbolisiert eine Schnittstelle zwischen Dystopie und Utopie. Durch die Erderwärmung verändert sich ihre Umwelt, was auf lange Sicht womöglich katastrophale Folgen haben wird – für Mensch und Natur, für die Alpen, Europa und die Welt. Gleichzeitig steht das markante und modernistische Haus auch für die Innovationskraft des Menschen, für Optimismus und positiven Wandel.
Der Schweizer Tourismus ist nach wie vor ein Wachstumsmarkt, in dem aktuell mehr als vier Mrd. € pro Jahr umgesetzt werden, bald sollen es fünf Mrd. € werden. Die Schweizer Reise- und Tourismusindustrie verursacht jedoch hohe Emissionen und schadet somit besonders ihrem Kerngeschäft – dem Naturerlebnis. Zermatt selbst verzeichnete vor der Covidpandemie pro Jahr 2,2 Millionen Besucher; all das könnte wegfallen, wenn der Klimawandel Schnee und Eis schmelzen lässt. Gleichzeitig bietet die Krise aber auch Chancen: Wegen Extremhitze, Waldbränden und Trockenheit am Mittelmeer könnten sich die Ansprüche von Urlaubern bald verändern und die Alpen als klimatisch angenehme Destination noch attraktiver werden, glauben Experten.
Doch auch in den Bergen sind die Folgen des Klimawandels dramatisch: In der Schweiz verliert das Eis in diesem Jahr so stark an Dicke wie noch nie seit Beginn der Beobachtungen, erklärte neulich der Glaziologe Matthias Huss von der ETH Zürich. Viele Gletscher haben in den vergangenen Monaten im Schnitt schon über drei Meter Eis verloren, Gletscherzungen sogar zehn Meter. Zwischen 1931 und 2016 hat sich das Volumen der Schweizer Eisriesen halbiert, weiß eine aktuelle Studie. Forscher Huss meint sogar, kein Sommer sei für die Alpen so desaströs gewesen wie jener 2022. Den rasanten Wandel in dieser Welt, die einmal „ewiges Eis“ genannt wurde, bemerkt auch Lehner schon lange. Vorhin hat er Plastikstangen in den Gletscher gehauen – als Markierungen für den Weg vom Tal auf die Hütte, die nur mit Steigeisen erreichbar ist. Doch die Route durch das Eis verändert sich permanent, weil der Gletscher immer schneller schmilzt. Vor zwei Jahren musste Lehner sogar einen neuen Weg in den Frost hauen, nachdem sich ein Gletschersee entleert hatte. Vor allem steigt die Gefahr von Steinabbruch.
Lehner ist in einer Bergführerfamilie aufgewachsen. Als Kind konnte er die Knoten eines Sicherungsseils knüpfen, noch bevor er wusste, wie man sich die Schuhe bindet. Seit zwei Jahren bewirtschaftet er die Monte-Rosa-Hütte zusammen mit dem Skilehrer Kilian Emmenegger. Morgen wird Lehner, wie immer Mitte September, die Unterkunft schließen, die Sommersaison ist vorbei. Erst im Frühjahr öffnet die Hütte wieder für den Skitourismus.
Als Kind machte Lehner Schulausflüge zur Hütte. Damals stand der Gletscher noch viel höher, der Zustieg war einfacher. „Und die Kinder waren noch etwas fitter“, sagt der Vater zweier Söhne im Teenageralter. Manche traditionellen Exkursionen sind heute längst nicht mehr möglich; auch, weil der Firnschnee nachts nicht mehr hart genug friert – wie etwa derzeit beim Viertausender Pollux.
Eigentlich ist Richard Lehner Bergretter und Skilehrer. 253 Mal stieg er auf das Matterhorn, das „Horu“, wie die Walliser sagen. Er war mit Phil Collins Ski fahren, er jettete mit schwerreicher Kundschaft zum Heliskiing nach Sibirien oder führte sie auf Andengipfel in Ecuador. Heute betreibt Lehner auch eine erfolgreiche Produktionsfirma für Filmdrehs in den Alpen, unterstützte etwa die Crew der BBC-Serie „The Night Manager“ auf der Riffelalp. Zusammen mit seiner Frau Yvette Lehner-Gaudin betreibt er zudem das Hotel Basecamp in Zermatt.
Geschichte schrieb Lehner 2010, als er im Annapurnagebirge im Himalaya auf 7.000 Metern drei verunglückte Alpinisten bergen konnte. Es war die damals höchste Bergrettung per Helikopter, die jemals gelungen war. Erst vor einem Jahr rettete er im Monte-Rosa-Massiv einer Russin das Leben – die Frau war in eine fünf Meter tiefe Gletscherspalte gefallen, harrte zwei Tage mit Shorts bekleidet in der eisigen Höhle aus. „Ihr Überlebenswille ist beeindruckend, sie hatte extrem viel Glück“, sagt Lehner.
Doch der Schweizer neigt nicht zum Tratschen über alte Heldentaten, lieber will er sich den Herausforderungen der Gegenwart widmen. Und zu denen zählt die Klimakrise: „Ich habe in all den Jahren genau erlebt, wie rasant der Klimawandel die Berge verändert hat“, sagt Lehner. Er hofft, dass die Monte-Rosa-Hütte zu einer umweltschonenden und nachhaltigen Lebensweise inspiriert.
Vor allem Holz und Aluminium wurden verbaut, leichte Baustoffe, die per Helikopter transportiert wurden. 56 Quadratmeter große thermische Solarkollektorflächen beheizen das Warmwassersystem. Der Strom für Lüftung, Beleuchtung und Abwasserkläranlage wird durch eine 110 Quadratmeter große Photovolta-
ikanlage erzeugt.
Automatisierung sollte das Energiemanagement anfangs effektiver machen. Ein Algorithmus berechnete mittels Wetterprognose und Bettenauslastung den Energiebedarf mehrere Tage im Voraus. Der Plan klang gut, taugte aber nicht für die Praxis. Der Energiebedarf war höher als gedacht – wegen Küche, Kühlschränken, Reinigung, Smartphone-Ladestationen und einem Mini-Klärwerk, das durch Mikrobakterien Abwasser zu frischem Wasser aufbereitet. Ökologie ist energieintensiv und der Bedarf oft viel höher als berechnet, das zeigte sich hier im Kleinen, gilt aber genauso für den klimaneutralen Umbau großer Industrien. Im Frühjahr 2010 übernachteten die ersten Gäste auf der Hütte mit rund 120 Schlafplätzen. Im selben Jahr kam es zu einem Helikopterunfall, der Pilot wurde verletzt, nachdem er Photovoltaikmodule gestreift hatte. Doch trotz der Fehlplanungen konnte das Institut für dynamische Systeme und Regelungstechnik der ETH Zürich die Hütte über Jahre optimieren – inzwischen kann sie ihren Energiebedarf zu 90 % selbst decken. Die Pionierarbeit im Wallis hat sich gelohnt, trotz – oder gerade wegen – der Rückschläge. Diese sorgten am Ende wohl für die wichtigsten Erkenntnisse, meint Lehner. Hütten in Inselversorgung könnten in Zukunft ein neuer Standard für Bergunterkünfte sein; die in der Monte-Rosa-Hütte erprobte Technik wird jedenfalls auch in anderen hochalpinen Schutzhütten in Frankreich und Österreich eingesetzt.
Auch andere Probleme unserer Zeit wurden hier schon mitbedacht, etwa der zunehmende Wassermangel. Rund 20 % der Schweizer Hütten droht derzeit die Schließung,
sollte es künftig weniger schneien. Viele Hütten rationieren längst ihr Wasser – weil sie keine Infrastruktur haben, um Schmelzwasser zu nutzen. Die Monte-Rosa-Hütte hat eine Kaverne angelegt, die 150.000 Liter Schmelzwasser sammelt – für Duschen, Waschen und die Küche.
Für den Klimaschutz sind die Alpen ein europäisches Frühwarnsystem: Hier zeigt sich, was auf die Welt zukommt, sagen Forscher. In den Alpen sind die Temperaturen in den vergangenen 100 Jahren mit zwei Grad Celsius doppelt so stark angestiegen wie im globalen Durchschnitt. Einerseits werden dadurch Trinkwasservorräte knapp, andererseits schmelzen mehr Gletscher, was zu Hochwasser und Geröllmuren führt. Gletschereis ist ein wertvolles Reservoir für Hitzeperioden – im Sommer geben die Alpengletscher Rekordmengen an Wasser ab. Doch der Kreislauf ist gestört: Was im Sommer schmilzt, wird im Winter nicht mehr ausgeglichen.
Auch die Gefahr, von Steinen getroffen zu werden oder in eine Gletscherspalte zu stürzen, ist hoch. An der Marmolata in den Dolomiten lösten sich im Juli Teile des Gletschers und donnerten ins Tal, elf Bergsteiger kamen ums Leben. Lehner glaubt, dass in Zukunft der Steinschlag eine der größten Gefahren ist.
Am nächsten Morgen ist es Winter auf der Monte-Rosa-Hütte. Eisiger Wind zerrt an der weiß-roten Sternenflagge des Wallis. Bei minus sechs Grad steigen wir Richtung Tal ab. Selbst über spiegelglatte Felsen scheint Lehner zu spazieren. Wir folgen den Fußstapfen unseres Wegbereiters in eine Landschaft aus Grau und Weiß. Knirschen und Schnaufen, mehr ist nicht zu hören, dann reißt der Himmel auf. Die Morgensonne bringt die Eiswelt und die Gipfel der Viertausender zum Leuchten. „Schön, oder?“,
sagt Lehner. Selbst der Alpinist, der eigentlich schon alles gesehen hat, wird in diesem Moment noch andächtig.
Klimakrise, Gletscherschmelze, Extremwetter – Lehners Welt sind die Berge. Doch diese Welt verschwindet. Macht ihm das Angst? „Die Berge werden immer ihren Reiz haben und die Menschen anlocken“, sagt er. „Wir haben uns immer anpassen können, und das werden wir sicher auch in diesen Zeiten.“ Dann trennen sich unsere Wege. Wir steigen weiter bergab, Lehner geht zurück zur Hütte. Er muss aufräumen, will dem Team noch einen ausgeben, bevor er die Hütte für die kommenden Monate zusperrt. Ein kurzer Abschied, und schon ist der Bergretter im Gletschergrau verschwunden. Auch seine Fußspuren im Eis haben sich bald aufgelöst.
Richard Lehner ist Alpinist, Bergführer, Geschäftsführer der Monte-Rosa-Hütte sowie Eigentümer des Hotels Basecamp in Zermatt.
Fotos: Michael Portmann, Thomas Crauwels