Der Aussteiger

Gary Stevenson, ein Mathe-Genie aus der Londoner Working Class, arbeitet sich als Börsenspekulant bei der Citibank ganz nach oben und wird mit Anfang zwanzig Millionär. Doch der Stress und die toxische Arbeitskultur der Finanzindustrie ruinieren seine Gesundheit. Heute will er die Welt verbessern – mit der Macht des Gelds.

East London an einem kühlen Apriltag, der sich zwischen Heiterkeit und Resignation nicht entscheiden kann. Gary Stevenson, 37, sitzt in seinem Apartment und blickt auf die Wolkenkratzer von Canary Wharf. Das Finanzviertel liegt nur einen kurzen Fußmarsch entfernt. In den Fassaden der Monolithen aus Glas und Stahl spiegeln sich abwechselnd Sonnenstrahlen und Regenwolken.

Stevenson ist ein drahtiger Mann, er trägt T-Shirt und Jogginghosen, sein Haar ist kurz ­geschoren. In seinem Akzent flackert das Cockney der Londoner Arbeiterklasse auf. In seinen Augen leuchtet die Smartness des Jungen von der Straße; Stevenson könnte ein Charakter aus „Trainspotting“ sein, oder ein ­Berliner Techno-DJ. Dass er mal der erfolgreichste Börsen­spekulant war, drüben im Citi Tower, auf den er jeden Tag blickt, das sieht man ihm aber nicht an, und auch nicht die Tatsache, dass er vor rund 15 Jahren als Banker Millionen an Boni verdient und diese Millionen erfolgreich vermehrt hat. Das gelingt ihm übrigens bis heute sehr erfolgreich – und das, findet er, ist ein Problem.

„Es ist nicht richtig, dass die reichsten Menschen einer Gesellschaft von Krisen profitieren, während Millionen andere in Armut abstürzen“, sagt Stevenson und versenkt einen Teebeutel im heißen Wasser seiner Tasse. Während Regierungen und die Arbeiterklasse Schulden anhäufen, werden die Reichen immer reicher – nicht, weil sie schlauer sind oder besser mit Geld umgehen können; nein, weil sie das System kennen. Weil sie das Spiel beherrschen.

Ein Beispiel gefällig? Stevenson muss nicht lange überlegen. „Coronapandemie“, sagt er. „Es war so einfach, in dieser Zeit Geld zu machen!“ Wie andere Finanzjongleure erkannte Stevenson in der Pandemie die sprichwörtliche goldene Gelegenheit. Früh wettete er im Zuge der Lockdowns auf einen steigenden Goldpreis. Er legte per Spread Banking eine Million Pfund an, kurze Zeit später machte er einen Gewinn von rund 60 % – und hatte mehr als eine halbe Million Pfund gewonnen. Auch andere Assets wie Immobilien und Aktien legten zu, durch die Geldflut schossen ihre Werte sogar noch weiter nach oben. Wer schon viel hatte, bekam also noch mehr, und wer schon vorher wenig hatte, hatte auch weiterhin wenig, war auf Zuschüsse und Almosen der Regierung angewiesen, um durch die Krise zu kommen.

Stevenson sieht darin ein Symptom für eine grundlegende Ungerechtigkeit – und ihn besorgt die rasant wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Aber er weiß auch: „Ich profitiere ja selbst von diesem System.“ Er ist Multimillionär, hat längst ausgesorgt, er könnte sich zur Ruhe setzen. Doch er hat eine Mission: Er will eine gerechtere Verteilung des Wohlstands. Er will, dass auch die Kids, mit denen er aufgewachsen ist, gewinnen können – oder zumindest eine Chance haben.

Stevenson wuchs als Sohn einer italienischen Mutter und eines Postarbeiters im Arbeiter­viertel Ilford mit zwei Geschwistern auf, in einem kleinen, viel zu engen Haus neben ­einem Wertstoffhof und einer Fabrik. Seine Mutter verabscheute als „extrem religiöse“ Mormonin jede Art von Materialismus. Das scheint ihn geprägt zu haben: Sein Apartment ist nur notdürftig ausgestattet. Seine teuerste Anschaffung seit Langem sei „dieser Kühlschrank“, sagt Stevenson und deutet auf ein imposantes, deckenhohes Modell von LG. Das Ding habe ihn 700 Pfund gekostet – vergleichsweise viel für jemanden, der kein Auto und nur die nötigsten Möbel besitzt.

Die frühen 90er-Jahre: Gary ist ein auf­müpfiger Junge, der zeitweise von der Schule fliegt. Er sieht, wie die Bankentürme im benachbarten Canary Wharf in den Himmel wachsen. Sie entwickeln eine Anziehungskraft, von der er sich nie ganz befreien kann. Was Stevenson von seinen Freunden unterscheidet: Er hat ein enormes Talent für Mathematik. Dadurch schafft er es auf eine angesehene Grammar School und bekommt einen Platz an der elitären London School of Economics (LSE).

Bei seinen Kommilitonen genügen meist die Kontakte der vermögenden Eltern und die Aura ihrer Herkunft, um an die begehrten Praktika in den Investmentbanken zu kommen. Stevenson muss sich hingegen über einen Wettbewerb der Citigroup beweisen: ein mathematisches Spiel, das Finanzhandel simuliert und bei dem Studenten der besten Universitäten gegeneinander antreten. „Ich beschloss, ihnen zu zeigen, dass wir Kids in Trainingsanzügen nicht alle dumm sind“, sagt er. Er gewinnt jede Runde, er demütigt seine Konkurrenten – und damit beginnt seine ­Karriere auf dem Trading Floor.

Ich beschloss, ihnen zu zeigen, dass wir Kids in Trainingsanzügen nicht alle dumm sind.

Gary Stevenson

Das Jahr 2007: Die Großbanken haben die Welt mit riskanten Kreditgeschäften und Spekulationen in eine Finanzkrise gestürzt – ein Schock, der noch Jahre später schwere soziale und politische Nachbeben auslösen wird. Millionen Menschen verlieren ihre Jobs, ihr Eigenheim, ihre Zukunft. Auch die Citigroup, die wie alle Großbanken die Krise mitverursacht hat, feuert Tausende Mitarbeiter. Doch Stevensons Team bleibt von Kündigungen verschont. Die Krise wird für ihn zur Chance. Er darf sich in der als sonderbar und altbacken geltenden Abteilung für Devisenswaps beweisen. Plötzlich profitieren gerade diese Produkte von der Unsicherheit im Markt. Stevenson und seine Kollegen jubeln und ballen die Fäuste, wenn sie entgegen dem Trend wieder mit einem Deal Millionen einstreichen und damit ihre Boni nach oben treiben. Gleichzeitig räumen nebenan die gefeuerten Kollegen ihre Schreib­tische. Trader in einer Bank zu sein ist ein egoistischer Job: Wer kein Geld verdient, ist raus – und wer Geld verdient, dem gelingt das meist auf Kosten des anderen. Dieser Konflikt, so meint Stevenson, führe zu der einzigartigen Kultur des Trading Floor: immer Vollgas, der Adrenalinpegel am ­Anschlag; fressen oder gefressen werden.

Stevenson steigt rasch zum erfolgreichsten Trader bei Citi auf. Er jongliert bald mit Hunderten Millionen an Kapital – nicht, weil er schlauer ist als die anderen, sondern weil er mal arm war, im Gegensatz zu den Kollegen. Kaum ist der Schock über den Lehman-Zusammenbruch verdaut, verbreiten Mainstream-Ökonomen wieder Optimismus. Die Zentralbanken drucken viel billiges Geld. Die Botschaft: Alles wird gut.

Doch Stevenson zweifelt. Zu Hause in Ilford erkennt er: Nichts ist gut. Bei Freunden und der Familie ist das Geld immer noch knapp. Alle haben zu kämpfen, nicht mal für das U-Bahn-Ticket zum nächsten Tagelöhner-Job reicht es noch. Stattdessen schlurfen sie mit Löchern in den Schuhen durch ihre Estates, die erdrückenden Klinker-Sozialbauten. „Mir wurde klar, dass der Markt unrecht hatte“, sagt Stevenson.

So findet er die Spekulation seines Lebens: 2011 wettet er gegen einen Aufschwung, im ganz großen Stil. Und tatsächlich wird aus der Finanzkrise die Schuldenkrise und dann die Eurokrise. Stevensons Wette auf den anhaltenden Abwärtstrend geht auf – und bringt Hunderte Millionen Dollar an Profiten ein. Der Junge von der Straße ist nun der Top Boy von Canary Wharf. Teure Abendessen, Luxustrips: Er kann sich die Ein­ladungen aussuchen. Doch Stevenson ist viel zu beschäftigt, für ihn gibt es nur „work hard“, kein „play hard“. Während seine Kollegen Kokain schnupfen und feiern, ist Stevensons Droge der Handel. Das Trading Game verschlingt ihn voll und ganz.

Er isst kaum, schläft wenig, verliert dramatisch an Gewicht. Er wacht um zwei Uhr morgens schweißgebadet auf, geht ins Fitnessstudio im Erdgeschoß seines Luxus-Apartmentblocks, rennt fünf Kilometer in fast 18 Minuten; geht zurück ins Bett, liest um 5.30 Uhr Hunderte E-Mails und schafft es dennoch vor Sonnenaufgang ins Büro. Statt im Anzug schlurft er nun wie ein Zombie in abgenutzten Turnschuhen und im Kapuzenpullover durch die Abteilung. Das Geschäft brummt weiterhin – doch Stevenson hat Schmerzen in der Brust. Er ist erschöpft und ausgebrannt. Der Krisenprofiteur erlebt nun seine ­eigene, höchst persönliche Krise.

Die Beziehung zu den Chefs wird ­toxisch. Stevenson habe ein Problem mit Autoritäten, ­sagen Ex-Kollegen; das viele Geld in jungen ­Jahren habe ihn verändert. Stevenson bekommt wegen inakzeptablen Verhaltens eine Straf­anzeige. Er fordert eine Pause, eine Erholung, am besten ein Sabbatical. Stattdessen wird er nach Tokio versetzt. Einsam und entfremdet stürzt er in eine Depression. Seine Hilferufe nimmt die Bank nicht ernst – so empfindet es jedenfalls Stevenson, und so stellt er es auch in seinem Buch („Das Milliardenspiel“, Ariston Verlag) dar, das kürzlich auf Deutsch erschienen ist.

Natürlich hätte Stevenson einfach gehen können. Doch dann hätte er auf seine Prämien verzichten müssen, deren Auszahlung – wie in der Branche üblich – in jährlichen Raten erfolgt und nie auf einen Schlag. Es ist das Prinzip „Esel und Karotte“. Am Ende gewinnt er, bekommt seinen Bonus und steigt aus.

Noch immer strahlt Stevenson Verletzlichkeit aus. Er wirkt nicht wie ein Mann, der mit den Höhen und Tiefen eines traumatischen Lebensabschnitts vollständig abgeschlossen hat. Das Trading Game reizt ihn weiterhin, darum spekuliert er ja auch jeden Tag sehr erfolgreich. Was er genau daran mag? „Es gibt keinen Bullshit beim Traden. Du bekommst schwarz auf weiß, ob du es draufhast oder nicht.“ Er empfindet eine gewisse Dankbarkeit für die Erfahrung, der Shootingstar auf dem Trading-Parkett gewesen zu sein. Und es macht ihn auch stolz, weil er, der Außenseiter, es allen gezeigt hat. Weil er so viel mehr draufhatte als die Posh Boys und die Posh Girls und die anderen Privilegierten, denen doch so vieles in den Schoß gelegt wurde.

Stevenson hat sich inzwischen als Aktivist neu erfunden. Mit der Organisation Patriotic Millionaires, einem Zusammenschluss anderer sozial engagierter Vermögender, macht er sich für eine höhere Vermögensbesteuerung stark. Auch eine Erbschaftssteuer fordert er. Dass die unteren und mittleren Schichten in Großbritannien unter der höchsten Abgabenlast seit Jahrzehnten leiden und ein „Schnösel wie der Duke of Wellington“ steuerfrei Milliarden erbe, das sei ja wohl Irrsinn. Stevensons Lieblingsprojekt ist seine Youtube-Show „Garys Economics“, wo er Ökonomie und Wirtschaft auf lockere, aber smarte Weise ver­mittelt, damit jeder von diesem Wissen profitieren kann. Seine politische Haltung fasst er so zusammen: „Ich möchte nicht, dass die Welt beschissen ist.“ Als junger Trader sei er nicht politisch gewesen – inzwischen schon. In seinen Clips stellt er kontroverse Thesen auf: etwa, dass es heute für jene, die von unten kommen, kaum noch Wege gebe, wirklich vermögend zu werden, es sei denn, man habe reiche Eltern. Dabei widerlegt ja seine Karriere diese Behauptung.

Stevensons Prognosen sind düster: Eine Aushöhlung der Mittelschicht, ein Kollaps des nicht mehr zu finanzierenden Wohlfahrtsstaats, eine noch extremere Kluft zwischen Reichtum und Armut, eine Radikalisierung des Anti-Einwanderungspopulismus.

Ich habe den Trading Floor geliebt – weil das Spiel jene belohnt, die wirklich Ahnung haben, und nicht jene, die einfach nur so tun.

Gary Stevenson

Die Abrechnung des Banking-Aussteigers mit seiner alten Heimat und sein neues Leben als ­Aktivist finden manche in der Londoner Finanzszene recht bizarr. In einem Artikel für das Branchenportal „eFinancialCareers“ schreibt ein Ex-Kollege, Gary sei sehr beliebt gewesen, ein guter Junge, sehr intelligent. Viele hätten ihm gegenüber väterliche Gefühle empfunden. Dass er die früheren Kameraden nun wahlweise als verhätschelte Internat-Kids oder Borderline-Psycho­pathen darstelle, bereite Schmerz. Und was er als Kampf gegen die Bank vor seinem Ausstieg darstelle, sei tatsächlich ein fürsorgliches Entgegenkommen der Chefs gewesen: Diese hätten ihm seinen Bonus ausgezahlt, um seine labile Gesundheit nicht weiter zu gefährden. Warum höre man von ihm nicht mehr Dankbarkeit für die Erfahrung – und die Chance, zu Vermögen zu kommen? Und übrigens: Viele Menschen in den Bankentürmen von Canary Wharf hätten Sympathien für sein Engagement für eine gerechtere Verteilung von Vermögen. Zudem gehe ja längst ein Großteil ihrer Einkünfte an den Staat.

Stevenson muss nun los. Ganz so düster, wie er die Welt oft malt, ist sie zumindest in seinem ­Alltag dann doch nicht – sein Verlag hat ihn zu ­einem feierlichen Lunch eingeladen, um den Erfolg ­seines Buchs zu würdigen, das auf dem eng­lischen Markt viele Wochen einen Spitzenplatz in den Bestsellerlisten belegt hat. Für das Werk hat er zwei Jahre gebraucht. Nachdem das Konzept stand, hat er es in neun Monaten geschrieben. Auf einen Ghostwriter hat er verzichtet.

Ob er den Trading Floor, drüben im Citi ­Tower, vermisst? „Sicher. Ich habe es geliebt – am Anfang.“ Warum genau? „Weil das Spiel jene belohnt, die wirklich Ahnung haben, und nicht jene, die einfach nur so tun.“

Der Himmel über Canary Wharf verdunkelt sich. Ein Regenschauer ergießt sich über das East End. Hinter den Glasfassaden der Türme gehen schon am frühen Nachmittag die Lichter an. Das Herz der Finanzindustrie pocht. Und es pumpt im Sekundentakt wachsende und schrumpfende Geldströme umher. Man kann es spüren, wenn man lange genug in die Lichter der Wolken­kratzer schaut. Es ist eine sanfte Form der Hypnose – ein Bann, der auch den Aussteiger Gary Stevenson nicht loslässt.

Gary Stevenson war kurz nach der Finanzkrise der erfolgreichste Trader der Citigroup. Heute ist er Aktivist und Youtuber und klärt auf seinem Kanal „Garys Economics“ über Finanzen und Wirtschaft auf. Sein Buch „Das Milliardenspiel: Wie man eine Bank ausraubt – und den Rest der Welt gleich mit. Der Insiderbericht aus der Londoner City“ ist ein Bestseller und im April auf Deutsch erschienen.

Fotos: Pål Hansen, Sven Hansche/Shutterstock.com

Reinhard Keck

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