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Seit 1957 wird Gstaad im Sommer zu einem Hotspot für klassische Musik. Doch obwohl das Gstaad Menuhin Festival vor allem für herausragende Konzerte bekannt ist, geht das Angebot weit darüber hinaus: Seit der Geburtsstunde des Festivals wird auch der Nachwuchs gezielt gefördert, seit mehr als 15 Jahren unter dem Dach der Gstaad Academy. In der Gstaad Conducting Academy, einer von fünf Academys, bekommen junge Dirigenten die einmalige Chance, von den weltweit Besten ihrer Zunft zu lernen.
Die Streicher weben mit breiten Bewegungen einen dichten Klangteppich, während die Bläser und Pauken, weiter hinten auf der Bühne, mutig Akzente setzen. Die Musik schwillt erst gewaltig an, wird dann schlagartig leise; für das Publikum fühlt es sich an, als würde es immer schneller auf eine Mauer aus Klang zurasen – die im letzten Moment durch eine sanfte Melodie ersetzt wird. Am Kopf der Bühne, mit dem Rücken zum Publikum, steht Alizé Léhon, eine junge Frau, die mit schnellen, aber präzisen Bewegungen das Orchester leitet und die einzelnen Instrumente zu einem grossen Ganzen zusammenführt.
«Das Violinkonzert von Mendelssohn ist umwerfend, aber ich war sehr froh, dass ich Bruckner dirigieren durfte. Besonders das Ende des ersten Satzes, den ich dirigiert habe, ist für mich der bewegendste Teil», sagt Léhon später. Ein anderer junger Dirigent, Gabriel Pernet, beschreibt Bruckners Symphonie unverblümter: «Niemand kann mir sagen, dass er von Bruckner unberührt bleibt. Diese Musik ist wie ein Schlag ins Gesicht.» Die Französin und der Schweizer sind zwei von zehn jungen Dirigenten, die heuer zwei Wochen im Schweizer Gstaad verbracht haben und in der Gstaad Conducting Academy von weltweit renommierten Dirigenten gecoacht wurden.
Seit 1957 findet im malerischen Alpendorf das Gstaad Menuhin Festival statt, auf dem international renommierte Orchester und Künstler in den historischen Kirchen von Gstaad und in einem Festivalzelt auftreten. Gegründet wurde das Festival von Yehudi Menuhin, der 1916 in New York geboren wurde, zeitweise in Gstaad lebte (er ist Ehrenbürger der Gemeinde Saanen, zu der Gstaad gehört) und 1987 in London den «Order of Merit» der Queen erhielt. Der Geiger und Dirigent verstarb 1999, ein paar Wochen vor seinem 83. Geburtstag, auf einer Tournee mit dem polnischen Sinfonieorchester Varsovia.
Je älter Menuhin wurde, desto mehr seiner Zeit widmete er der Lehre. Um seinem Vermächtnis gerecht zu werden, gründeten die Veranstalter des Gstaad Menuhin Festival 2014 die Conducting Academy. «Wissenstransfer ist in der DNA unseres Festivals», sagt Christoph Müller, seit 2002 Artistic Director. «Die Conducting Academy soll jungen Dirigenten ein Sprungbrett auf die professionelle Bühne bieten», ergänzt Lukas Wittermann, der Geschäftsführer des Festivals.
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Während Musiker es etwas leichter haben, den Schritt vom Amateur zum Profi zu machen, ist es für Dirigenten besonders schwierig, weil sie kaum die Möglichkeit bekommen, Erfahrung zu sammeln. «Ein Dirigent muss ein gewisses Niveau erreichen, bevor er vor ein etabliertes Orchester tritt. Ein verfrühter Schritt könnte der Entwicklung fast schaden», so Wittermann. Auf der Academy werden die jungen Musiker zwei Wochen lang gecoacht – dieses Jahr etwa von Jaap van Zweden (Music Director des Seoul Philharmonic Orchestra) und Johannes Schlaefli (Professor für Orchesterleitung an der Zürcher Hochschule der Künste) –, bevor sie am letzten Abend vor dem Publikum dirigieren dürfen.
«Das ist eine Konstellation, die es sonst nirgends gibt», so Müller. Die meisten Dirigentenschulen, erklärt er, dauern oft nur ein paar Tage und bieten meistens lediglich Zugang zu einem Amateur- oder Jugendorchester. Hier ist es anders: Über 120 Dirigenten aus mehr als 30 Ländern wurden seit 2014 innerhalb der Gstaad Conducting Academy gecoacht und vom Gstaad Festival Orchestra begleitet, das zum grossen Teil aus erlesenen Profis aus europäischen Spitzenorchestern besteht.
2024 wurden aus über 200 Bewerbern zehn junge Dirigenten für die Academy ausgewählt. Auf dem Programm für das Konzert standen unter anderem Stücke von Felix Mendelssohn und Anton Bruckner. Die Studenten durften sich aber nicht aussuchen, welches Stück oder welchen Satz sie dirigieren sollten – das wurde verlost, und in manchen Fällen fand der Dirigentenwechsel mitten im Satz statt, was wohl auch für das Gstaad Festival Orchestra eine besondere Herausforderung war.
Nach dem Konzert wählte eine Jury – bestehend aus Christoph Müller, den Professoren der Academy, zwei Mitgliedern des Gstaad Festival Orchestra und Repräsentanten der Partnerorchester – drei Gewinner aus, denen der Neeme Järvi Prize (benannt nach dem in Estland geborenen und mittlerweile in den USA lebenden weltweit renommierten Dirigenten) verliehen wird. Auf die Preisträgerinnen und Preisträger warten Gastdirigate bei renommierten Berufsorchestern in der Schweiz und in Deutschland; den Partnerorchestern der Conducting Academy. Und, so Wittermann, ein weiterer wichtiger Aspekt: Das Abschlusskonzert wird online übertragen – so stehen die zehn Dirigenten unter Beobachtung von Agenturen aus aller Welt. Wir haben mit den diesjährigen Gewinnern gesprochen und sie gefragt, was sie in den zwei Wochen gelernt haben – und wo sich Musik und Wirtschaft treffen.
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Omer Ein Zvi
Der Israeli Omer Ein Zvi war von allen Dirigenten wohl am längsten nervös – er durfte das Konzert abschliessen, was für ihn eine besondere Herausforderung darstellte. «Bruckner beginnt an einem Punkt und endet ganz woanders», erzählt uns der 19-Jährige am Morgen nach dem Festival. Wenn auf dieser «Reise» dann noch acht verschiedene Dirigenten involviert sind, wird sie noch ein Stück komplizierter. «Aber es hat für uns gut funktioniert, weil Jaap (van Zweden, Anm.) uns einen Rahmen gesetzt hat. Wenn jeder Dirigent zu 100 % das gemacht hätte, was er will – dann hätte die Sinfonie ganz anders geklungen.»
Auf die Frage, ob er zwischen der Welt der Musik und der Unternehmenswelt Parallelen sieht, sagt Ein Zvi: «Ja und nein» – einerseits müssten Dirigenten verschiedene Personengruppen zufriedenstellen, ähnlich wie bei Geschäftsführern und ihren Stakeholdern. Ein Zvi: «Du hast die Verantwortung, einen guten Auftritt zu liefern; du hast die Verantwortung, dass den Musikern ihr Job Spass macht. Du musst das Publikum unterhalten und manchmal Geldgeber zufriedenstellen.» Andererseits arbeite man, anders als bei vielen Jobs, auf ein singuläres Ziel hin – eben die Aufführung: «Während der Proben führt der Dirigent das Orchester, er zeigt den Musikern, wie das Stück gespielt werden soll. Aber beim Konzert ist es mehr ein Dialog zwischen dem Komponisten, dem Dirigenten und dem Orchester. Der Dirigent muss auf einer Ebene mit dem Orchester stehen.»
Was für Ein Zvi als Nächstes ansteht? «Ich habe dieses Jahr das erste Jahr meines Bachelorstudiums abgeschlossen. Jetzt werde ich erst einmal weiterstudieren. Aber ich freue mich auf die nächsten Jahre, in denen ich herausfinden werde, was für mich funktioniert und was nicht – und natürlich alles anwenden werde, was ich in diesen zwei unglaublichen Wochen gelernt habe.»
Alizé Léhon
Alizé Léhon lernte als Kind, Klavier und Violine zu spielen, begann aber mit 14 Jahren zu dirigieren und war seitdem Gastdirigentin zahlreicher Orchester in Europa. «Ich habe meinen Blick bereits vor einigen Jahren auf die Gstaad Conducting Academy geworfen, aber ich habe auf den richtigen Moment gewartet», erklärt die Französin ihre Entscheidung, sich zu bewerben. «Ich bin im Mai mit meinem Masterstudium fertig geworden und dachte mir, das sei eine gute Art, weiterzulernen – aber in einem anderen Kontext. Die Gstaad Conducting Academy ist, denke ich, eine der wichtigsten Dirigenten-Akademien der Welt.»
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Die Musikerin, die während des Konzerts die Leitung des Orchesters mitten im Satz übernehmen muss, versucht während ihrer Arbeit, eine psychologische Verbindung zwischen sich, dem Orchester und dem Publikum herzustellen. «Das ist für mich das Wichtigste beim Dirigieren», sagt sie. Klassische Musik soll, so Léhon, für alle offen sein – jeder sollte die Möglichkeit haben, ein Orchester live zu hören.
Das Publikum der meisten klassischen Konzerte ist alt: In Grossbritannien gehen nur rund 7 % der Ticketverkäufe an Menschen unter 31 Jahren, berichtet eine Studie von «Audience Answers»; 37 % gehen an über 61-Jährige. Der Report bezieht sich zwar auf Daten aus den Jahren 2014 bis 2016, aber ein Blick in das Festivalzelt in Gstaad spiegelt die Altersgruppen wider – vereinzelt sind zwar junge Menschen und Kinder zu sehen, die Mehrheit sind jedoch ältere Menschen. Léhon dazu: «Es ist Teil unserer Aufgabe, eine Verbindung zwischen der Musik und dem Publikum zu schaffen, egal wie dieses aussieht oder woher es kommt.»
Als Zweitplatzierte darf Léhon nun das Musikkollegium Winterthur und das Sinfonieorchester Basel als Gastdirigentin führen. Davor braucht sie aber eine kurze Pause: «Mein nächstes Ziel ist es, ehrlich gesagt, ein wenig Urlaub zu machen», lacht Léhon – dass sie danach aber umgehend wieder dirigieren möchte, steht für sie ausser Frage.
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Gabriel Pernet
Gabriel Pernet, der auch Klarinettist ist, eröffnete das Konzert am letzten Abend der Gstaad Menuhin Academy. Während er den ersten Satz von Felix Mendelssohns Violinkonzert dirigierte, zog über Gstaad ein Gewitter auf. Die Pausen in der Musik wurden von Donner über den Bergen gefüllt, der Regen plätscherte auf das Festivalzelt. Der Sturm und die Bergkulisse sorgten für eine bedrohliche Stimmung, die die Emotionen der Musiker und Dirigenten verstärkten. «Es war für mich nicht leicht, als Erster dran zu sein», erzählt uns Pernet am nächsten Morgen. «Ich war recht angespannt, aber es ist alles gut gelaufen, weil ich dem Orchester vertrauen konnte – auch, weil ich bereits letztes Jahr hier spielen durfte.» Pernet stammt aus Vaud, keine zwei Autostunden von Gstaad entfernt, und im Laufe des Abends wird klar, dass er viele der Musiker schon länger kennt. Nach dem Konzert, als die Last von den Schultern der Dirigenten gefallen ist und die Jury entscheidet, wer den Preis gewinnen wird, stösst er mit einigen von ihnen an. Das Gewitter ist mittlerweile weitergezogen.
Die Vorbereitung im Rahmen der Academy hat natürlich auch geholfen, dass Pernets Auftritt trotz seiner Anspannung gut über die Bühne gehen konnte. «Die Professoren und die Musiker wussten, sie sind hier für uns, für die Dirigenten. Sie haben uns geholfen, in diesen zwei Wochen grosse Fortschritte zu machen», sagt Pernet.
Als verkündet wird, dass Pernet den ersten Platz gewonnen hat, wird er mit Applaus vom Publikum begrüsst – aber das Orchester explodiert förmlich mit Jubelrufen. «Das habe ich gar nicht gesehen», sagt uns der junge Dirigent am nächsten Tag. Aber als er die Bühne betritt und eine Danksagung an das Publikum, die Musiker, seine Mitschüler und an die Professoren der Akademie aussprechen möchte, bleiben ihm die Worte fast im Hals stecken. Es ist ein sichtlich emotionaler Moment für den Vollblutmusiker.
Im Rahmen des ersten Platzes gewann Pernet Gastdirigate beim Sinfonie Orchester Biel Solothurn, beim Kammerorchester Basel, bei der Philharmonie Südwestfalen und beim Orchestre de Chambre de Lausanne. «Dirigieren ist eine endlose Lehre. In der Musik gibt es immer etwas Neues zu entdecken», führt Pernet aus. Und er schliesst mit den Worten: «Als junger Dirigent ist es schwierig, den ersten Schritt zu machen. Das hier war der perfekte erste Schritt.»
Fotos: Theresa Pewal