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Der Ausbruch der Coronavirus-Pandemie stellte die Welt auf den Kopf – für Beobachter ist die aktuelle Krise völlig beispiellos. Harvard-Professor Niall Ferguson sieht das anders: Geht es nach dem Historiker, sollten CEOs und Regierungschefs einen Blick in die Geschichte werfen, um für gegenwärtige Krisen zu lernen.
Niall Ferguson polarisiert. Und das, obwohl er an Universitäten wie Oxford, Harvard und Stanford unterrichtet hat. Die britische Zeitung The Guardian widmete Ferguson ein Porträt mit dem Titel „Niall Ferguson: Bewundernswerter Historiker oder kaiserlicher Unruhestifter?“. Das Blatt kritisierte den Historiker für seine Unkonventionalität und seine imperialen Sichtweisen. Jedoch erkennen selbst seine schärfsten Kritiker an, dass Ferguson wirtschafts- und finanzhistorisch äußerst kompetent ist. 2004 zählte das Time Magazine Ferguson zu den 100 weltweit einflussreichsten Personen, die NZZ bezeichnete ihn als einen der wichtigsten Ökonomen der Gegenwart. Fergusons größter Kritikpunkt an der aktuellen Diskussion ist fehlendes historisches Wissen – CEOs, Führungskräfte und Regierungschefs auf der ganzen Welt hätten viel zu wenig fundiertes Wissen über die Geschichte.
Ferguson nennt das systematische Lernen aus der Geschichte „Applied History“ – Angewandte Geschichte. Wie das funktioniert? „Man findet ein Problem in der Gegenwart vor und fragt sich: Gab es ähnliche Vorkommnisse bereits in der Vergangenheit? Daraufhin schreibt man die Ähnlichkeiten und Unterschiede des Problems auf und zieht seine Lehren daraus. Es ist eine intellektuelle, empirische Praxis – keine Kunst.“ Über Skype argumentiert Ferguson, der mit seiner Föhnfrisur und den blauen Augen eher an einen McKinsey-Berater
als an einen Universitätsprofessor erinnert, seine Standpunkte: Wieso Geschichte in ihrer Gelehrsamkeit besser als andere Sozialwissenschaften sei, oder was uns die Menschheit am besten verstehen lässt, um aus diesen Erkenntnissen wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen.
Niall Ferguson
... studierte Geschichtswissenschaften an der Oxford University, wo er 1989 promovierte. Er schlug eine akademische Karriere ein und lehrte unter anderem an der Harvard University. Heute ist er Senior Fellow an der Hoover Institution.
Seit Jahrzehnten streiten die wissenschaftlichen Disziplinen über diese Frage. In der Ökonomie haben mittlerweile exakte Wissenschaften wie die Mathematik die Oberhand gewonnen. Man versucht, Erkenntnisse zu quantifizieren und so die Zukunft zu prognostizieren. „Es gibt in der ökonomischen Disziplin eine Deformation. Die Wirtschaftsgeschichte wurde in ihrer Bedeutung abgewertet, indem man versuchte, Ökonomie als angewandte Mathematik mittels Modellen darzustellen – obwohl das intellektuell nicht rechtfertigbar ist. Die Ironie ist, dass große Ökonomen wie Ken Rogoff, Robert Shiller und Larry Summers erkannten, dass die Geschichte unentbehrlich ist.“
Doch welche besseren Ansätze hat der Blick in die Geschichte? „Historiker studieren Systeme. Charakterisierend dabei sind die große Komplexität der Welt und der Fakt, dass es in der Geschichte keine Linearität gibt. Eine kleine Störung kann enorme Auswirkungen haben. Das Problem der meisten ökonomischen und epidemiologischen Disziplinen ist, dass sie simplifizieren, um mathematisch realisierbar zu sein. Kein Modell, das ich kenne, sagte den Kollaps der Sowjetunion voraus. Gleiches gilt für den genauen Zeitpunkt der Finanzkrise 2008 – und für die Coronavirus-Pandemie.“
Auf die Frage, ob Geschichte nicht zu unpräzise sei, und den Einwand, dass vergangene Welten nicht Lehrmeister für die Gegenwart sein könnten, antwortet Ferguson: „In der Krise von 2008 hat der damalige Vorsitzende der Federal Reserve (US-Notenbank, Anm.), Ben Bernanke, auf Basis von Geschichtswissen entschieden. Bernanke war umgeben von Ökonomen ohne fundiertes historisches Wissen, die anhand ihrer Modelle dachten, uns stünde lediglich eine kleine Rezession bevor. Doch Bernanke hatte die Große Depression studiert. Er zog eine Analogie zwischen der Finanzkrise 2008 und der Great Depression von 1929.“
Diese Darstellung hört man von Wirtschaftshistorikern immer wieder, doch stimmt sie auch? Die New York Times hat Hunderte Seiten an Sitzungstranskripten der US-Notenbank bearbeitet – und bestätigt, dass Bernanke im Vergleich zu anderen Beteiligten klarsichtig und entscheidungsschnell war, während seine Kollegen zögerten, den Leitzins zu senken. „Wir hatten Glück, dass jemand mit historischem Wissen die Fed führte“, so Ferguson. „Es ist unabdingbar, dass Zentralbanker eine profunde wirtschafts- und finanzhistorische Bildung haben.“
Niall Ferguson wuchs als Sohn eines Arztes und einer Lehrerin auf und war schon früh von Geschichte fasziniert. Er schlug den akademischen Weg ein und promovierte zum Thema „Business and Politics in the German Inflation: Hamburg 1914–1924“. Es folgte eine steile Karriere, die in einer zwölf Jahre dauernden Professur an der Harvard University gipfelte. Doch der Shootingstar eckte an – 2018 trat er von seinem Posten in Stanfords Cardinal Conversations (einem Forum der Universität für freie Rede und diverse Ideen, Anm.) zurück, nachdem Vorwürfe erhoben wurde, dass er konservative Studenten gegen linksliberale aufgebracht hätte. In einem Interview mit der NZZ kritisierte er 2019 dann die linke Orientierung der anglosächsischen Universitäten und sagte etwa: „Als Rechter bist du ein potenzieller Nazi. Kommunisten hingegen sind moralisch einwandfreie Sozialdemokraten.“
Auch für die aktuelle Krise hat Ferguson eine historische Analogie: „Jeder, der meint, unsere derzeitige Lage ohne einen Blick in die Geschichte erklären zu können, lügt sich selbst an. In Bezug auf die Coronavirus-Pandemie muss man sich historische Geschehnisse ansehen, die ähnliche Konsequenzen hatten.“ Ferguson nennt etwa den Ersten Weltkrieg bezüglich der Entfaltung des Schocks: „Ähnlich wie 1914 stand während Corona die gesamte globale Wirtschaft still.“ Doch Ferguson sagt auch, dass die politischen Konsequenzen schlimmer gewesen seien als der Weltkrieg an sich. „Welche nachhaltigen Konsequenzen Corona haben wird, wissen wir noch nicht. Wovon wir mit großer Sicherheit ausgehen können, ist, dass der Kalte Krieg zwischen den USA und China sich verschärfen wird. Das ist in der Geschichte zwischen einer aufsteigenden und einer etablierten Großmacht immer so gewesen.“
Wenn die Geschichte aber ebenfalls keine schlüssigen Antworten auf die großen Fragen liefert – was ist dann ihr Vorteil gegenüber den Modellen? Modelle könne man laut Ferguson in 90 % der Zeit anwenden – denn die Daten, auf denen sie basieren, würden keine Ausnahmen kennen. Doch es komme auf die restlichen 10 % an: „In Zeiten von Umbrüchen scheitern Modelle, weil die Mathematik für Extremfälle zu kompliziert wäre. Das ist das Argument für Geschichte.“ In ihr könne man jeden Umbruch – und die Konsequenzen – ablesen. In Wirklichkeit biete die Geschichte somit ein Sensorium für Probleme und ihre Entwicklungen. Jede einzelne Variable, die die Gesellschaft beeinflusst, kann fatale Auswirkungen haben. Doch Ferguson relativiert insofern, als Historiker lediglich Optionen anbieten würden: „Es ist nicht die Aufgabe eines Historikers, die Zukunft vorauszusagen. Was wir können, ist, mehrere ‚Zukünfte‘ anhand der historischen Entwicklungen darzulegen.“
Folgt man Fergusons Ausführungen, landet man hier: Die Geschichte vereinigt alle bestehenden wissenschaftlichen Disziplinen und Einflüsse in einer Gesellschaft, die die Gegenwart zur Vergangenheit werden lässt. Diese Komplexität macht geschichtliche Prognosen unmöglich, weil wir sonst die Zukunft kennen würden. Die Essenz der historischen Lehre ist daher, welche ‚Zukünfte‘ die Gegenwart annehmen kann. Das sei in Ausnahmesituationen der beste Ratgeber – sagt zumindest Niall Ferguson.
Text: Muamer Becirovic
Foto: Tom Barnes
Der Artikel ist in unserer Mai-Ausgabe 2020 „Geld“ erschienen.