Das letzte echte Dirndl

Im Jahr 1949 tauschten Marlen und Jochen Tostmann ihr erstes handgenähtes Dirndl gegen einen Laib Mondseer Käse. Heute werden Tostmann-Dirndln nicht mehr getauscht – nur noch gekauft, oder vielleicht vererbt. Bis jetzt konnte Tostmann beweisen, dass selbst kleine Akteure im Modegeschäft erfolgreich sein können, wenn sie ihrer Linie treu bleiben. Die Entwicklungen auf dem Markt und die Insolvenzen anderer Traditionshersteller bereiten der heutigen Geschäftsführerin Anna Tostmann-Grosser jedoch Sorgen.

Seit 1968 befinden sich die Produktion, die Ver­waltung und das Geschäft von Tostmann im alten Gemeindeamt von Seewalchen. Über dem Eingang des traditionellen Gebäudes mit hölzernen Fensterläden und Blumentöpfen prangt das markante Tostmann-Schild. Das Haus ist längst eine Sehenswürdigkeit geworden – der Firmensitz ­eines der letzten traditionellen Trachtenunternehmen Österreichs.

Hier entstehen Dirndln und Trachten für ­jeden Anlass: alltagstaugliche Freizeitdirndln, ­fest­liche Modelle, Hochzeitsdirndln, Herrenmode und Accessoires. Gemeinsam mit dem Standort in Wien vertreibt Tostmann seine Mode nicht nur in ganz Österreich, sondern zunehmend auch international. Der Familienbetrieb wird in zweiter und dritter Generation von Gexi Tostmann und ihrer Tochter Anna Tostmann-Grosser geführt. Letztere übernahm 1999 die Geschäftsleitung; eine für sie bemerkenswerte Wendung, wie sie sagt, da Dirndln in ihrer Kindheit und Jugend nicht gerade zu ihren Vorlieben zählten. „Ich war ein absolutes Hosenkind“, erinnert sich Tostmann-Grosser und ergänzt schmunzelnd: „Es gibt viele Kinderfotos, auf denen ich verheult im Dirndl stecke.“ Während Anna Tostmann-Grosser sich heute um das tägliche Geschäft kümmert, hat ihre Mutter Gexi unter anderem die Position als „Dirndl-­Spezialistin“ inne.

Das Unternehmen produziert heute etwa 3.500 Dirndln pro Jahr und zählt knapp 80 Mit­arbeiter. Doch seit einigen Jahren drängen große internationale Modemarken auf den Markt und bieten Dirndln für einen Bruchteil der Preise ­traditioneller Trachten an. Andere heimische Mode­unternehmen wie Gössl und Lena Hoschek mussten bereits den Weg in die Insolvenz gehen – wie also möchte Tostmann-Grosser das Familien­unternehmen in die Zukunft lenken?

Die Oberösterreicherin studierte Jus in Wien, entschied sich aber nach ihrem Abschluss, nach Seewalchen zurückzukehren, um das Familienunternehmen zu übernehmen. „Ich bin ein Einzelkind, und die Erleichterung bei allen war groß, als ich mich dazu entschloss“, sagt Tostmann-Grosser. „Ich hatte keine textile oder wirtschaftliche Ausbildung und war in der Anfangszeit sehr dankbar für die Unterstützung des gesamten Teams.“ Mit der Übernahme des Familien­unter­nehmens stand Tostmann-Grosser vor der Heraus­forderung, die großen Fußstapfen ihrer Großmutter Marlen und ihrer Mutter Gexi Tostmann zu füllen.

Die Geschichte von Tostmann Trachten begann 1949 in Seewalchen am Attersee, als Marlen Fischer und Jochen Tostmann mit einem Handwebstuhl und einer alten Singer-Nähmaschine die ersten Dirndl-Unikate ­fertigten. Schon damals, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde die Idee, Dirndln her­zustellen, von vielen skeptisch betrachtet. „Alle haben meinen Groß­eltern prophezeit, dass die Zeiten des Dirndls vorbei sind“, erzählt die heutige Geschäfts­führerin. Doch ihre Großmutter hielt ­dagegen: „Was kann das Dirndl dafür, dass es von den Nazis missbraucht wurde?“

Das Gründer-Ehepaar tauschte sein erstes handgenähtes Dirndl gegen einen Laib Mondseer Käse – der Beginn eines schrittweise wachsenden Unternehmens. Bereits ein Jahr später konnten sie die erste Mitarbeiterin ­einstellen. 1951 erwarben Marlen und Jochen Tostmann das „Reiterhaus“ (ein ­heruntergekommenes ­Gebäude, das als Werkstatt, Wohnung und ­Geschäft dienen sollte) in Seewalchen, womit sie den Grundstein für ein stetig wachsendes Unter­nehmen legten. Das Wachstum erreichte 1961 ­einen Höhepunkt: Rund 200 Mitarbeiter fertigten damals monatlich etwa 4.000 Dirndln. 1968 kaufte Jochen Tostmann das alte Gemeinde­amt von Seewalchen, das seitdem als Hauptsitz von Tostmann Trachten dient.

1977 übernahm schließlich Marlens und ­Jochens Tochter Gexi Tostmann das Unter­nehmen in Seewalchen und Wien und traf eine zukunftsweisende Entscheidung. Ihre Tochter Anna Tostmann-Grosser erinnert sich: „Meine Mutter bestand bereits in den 1980er-Jahren mit Nachdruck darauf, die Produktion in Österreich zu halten. Diese Entscheidung wurde damals oft belächelt, da viele das Abwandern ins ­günstigere Ausland als einzig sinnvollen Weg sahen. Es gab zahlreiche Stimmen, die prophezeiten, dass es langfristig nicht funktionieren würde.“ Damals beschäftigte das Unternehmen fast 400 Mit­arbeiter. Dennoch entschied sich Gexi Tostmann bewusst für ein kontrolliertes Schrumpfen: Es wurden keine neuen Händler mehr aufgenommen und offene Stellen blieben unbesetzt.

Im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 erlebte Tostmann einen unerwarteten Dirndl-Boom, der 2010, in ihrem umsatzstärksten Jahr, seinen Höhe­punkt fand. „Während der Krise suchten viele, die ihr Geld nicht in Aktien oder Immo­bilien verloren hatten, nach alternativen Anlage­formen“, erklärt Tostmann-Grosser. „Das Dirndl als zeitloses Modestück eignete sich dafür natürlich hervorragend.“

Ich war ein absolutes Hosenkind.

Anna Tostmann-Grosser

Die Coronapandemie kehrte den Boom um – 5.000 Dirndln wurden vor 2020 verkauft, deutlich mehr als heute. Tostmann spürt die Auswirkungen noch jetzt: „Während der Pandemie gab es einfach keine Anlässe, zu denen man ein Dirndl trägt – keine Hochzeiten, Firmungen oder Feste. Niemand kauft sich ein Dirndl fürs Homeoffice. Dadurch ist ein großer Teil unseres Umsatzes weggebrochen“, erklärt Tostmann-Grosser. Vor allem die Kurzarbeit half dem Unternehmen, diese Krise zu überstehen: „Während Corona sind wir geschrumpft. Mitarbeiter im pensionsfähigen Alter sind in den Ruhestand gegangen, und viele Stellen konnten wir nicht nachbesetzen. Ohne staatliche Hilfe und Kurzarbeit hätten wir wahrscheinlich nicht überlebt.“

Die Zielgruppe von Tostmann hat sich seit 1949 stark verändert. Tostmann-Grosser beobachtet seit einigen Jahren, dass vor allem junge Frauen das Dirndl wieder für sich entdecken. „Wenn ich an meine Generation oder die nachfolgende denke, war das Dirndl eher eine ungeliebte Pflichtkleidung für Familienfeste“, erklärt sie. „Doch heute kommen junge Mädchen in unsere Geschäfte, um sich ein Dirndl für die Matura oder die Firmung zu kaufen.“

Auch die Ideologien rund um das Dirndl ­haben sich gewandelt. Während Tostmann-­Gründerin Marlen Tostmann nach dem ­Zweiten Weltkrieg befürchten musste, dass Trachten­träger mit dem Nationalsozialismus in Ver­bindung gebracht werden und in der Folge aussterben, wird die Tracht heute von einer breiten, politisch unabhängigen Masse getragen. „Wenn wir in die Politik schauen, sehen wir, dass das Dirndl mittlerweile parteiübergreifend getragen wird. Das ist wirklich schön zu beobachten, denn es handelt sich um traditionsreiche Mode, die lange mit Vorurteilen zu kämpfen hatte. Ein Dirndl zu tragen ist kein politisches Statement“, so Tostmann-Grosser.

Dennoch kann das Dirndl viel über die Herkunft verraten, auch wenn die typische regionale Tracht zunehmend in Vergessenheit gerät. Dazu erklärt Tostmann-Grosser: „Manchmal kommen Kundinnen ins Geschäft und fragen nach einer Tracht aus einer bestimmten Region, entscheiden sich dann aber doch häufig für ein ‚Fantasiedirndl‘. Regionale Trachten sind mittlerweile eher ein Randthema.“ Dennoch hat in den letzten zwei Jahrzehnten die sogenannte „Ortstracht“ stark an Beliebtheit gewonnen – dabei entwirft eine Ortschaft oder ein Bezirk eine eigene Tracht, um sich nach außen zu präsentieren und Zuge­hörigkeit zu symbolisieren.

Neben dem regionalen Ursprung kann ein Dirndl – genauer gesagt: die Position der Schleife auf der Schürze – auch Hinweise auf den Beziehungsstatus geben. Allerdings, wie Tostmann-Grosser erklärt, gibt es hierfür keine historische Grundlage: „Weitverbreitete ‚Weisheiten‘ zur Schleife – links unverheiratet, rechts ver­heiratet – sind historisch nicht belegt; doch da sie ­stetig gelebt und weitergegeben werden, ­haben sie auf ihre Weise dennoch Gültigkeit.“

Das Dirndl zieht zwar Inspiration aus der ­höfischen Damenmode des 18. Jahrhunderts, wurde in seiner heutigen Form aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts in Bayern von den Brüdern Moritz und Julius Wallach entwickelt; es wurde schließlich einige Jahre später im Zuge des 100-jährigen Jubiläums des Oktoberfests weithin beliebt. Während das Dirndl heute eine teure und formelle Tracht ist, war es nach dem Ersten Weltkrieg vor allem ein Kassenschlager, da es eine erschwingliche Alternative zur ursprünglichen Frauentracht war.

Damals war das Dirndl meist bodenlang, mit einem hochgeschlossenen Kragen und einer langärmeligen Bluse. Erst während der Zeit des Nationalsozialismus entwickelte sich das moderne Dirndl, das durch einen tiefen Ausschnitt, eine enge Silhouette und eine 7/8-Länge charakte­risiert wurde. Diese Veränderungen sind auf ­Gertrud Pesendorfer, die „Reichsbeauftragte für Trachtenarbeit“, zurückzuführen. Sie setzte sich dafür ein, die Tracht von kirchlichen ­Einflüssen zu lösen, und entwarf eine eng geschnürte oder geknöpfte Taille, die die weibliche Brust ­stärker in den Fokus rückte. Heute ist das Dirndl im deutschsprachigen Raum weitverbreitet und wird vor allem auf Volksfesten wie dem Oktoberfest von einer breiten Bevölkerungsgruppe getragen. Kürzere, günstigere Dirndln aus Polyester (im Gegensatz zu traditionellen Stoffen aus Natur­materialien wie Baumwolle, Seide oder Leinen) in verschiedenen, oft ausgefallenen Farben erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Tostmann setzt jedoch weiterhin auf qualitativ hochwertige Dirndln und lässt sich zugleich von aktuellen ­Modetrends inspirieren.

Meine Mutter hat immer gesagt: ‚Wer die Formen beherrscht, darf sie auch mal ­verlassen!‘“, erklärt Tostmann-Grosser. „Ich finde, wir decken beide Bereiche gut ab: Zum ­einen stellen wir traditionelle Trachten her, die mit Techniken gefertigt werden, die teilweise fast verloren gegangen sind; aber wir sind auch offen für neue Farben und Formen. Ein Polyester-­Dirndl oder ein Dirndl mit Pelz kommt mir jedoch nicht in den Laden – da ziehe ich eine klare Grenze.“

Trotzdem erfreuen sich genau diese Trachten offenbar immer größerer Beliebtheit. Große internationale Modemarken wie H&M springen auf den Dirndl-Zug auf und produzieren insbesondere während des Oktoberfests günstige Dirndln, die wenig mit der ­traditionellen Tracht zu tun haben. Diese werden dann für Preise zwischen 50 und 100 € verkauft. Zum Vergleich: Ein Tostmann-Dirndl kostet durchschnittlich etwa 1.000 €. Nicht nur diese Entwicklung ­be­reitet Tostmann-Grosser Sorgen – auch die Insolvenz konkurrierender heimischer Mode­unternehmen aus ähnlichen Preissegmenten lässt die Geschäfts­führerin skeptisch in die ­Zukunft blicken. „Ich muss keinen Hehl daraus machen: Es sind wirklich herausfordernde und unberechenbare Zeiten. Vor allem sehen wir, dass die Mittelschicht als Kundenstamm immer weiter wegbricht“, sagt Tostmann-Grosser.

Ihr Motto für die Zukunft lautet daher: „Lieber klein und fein“ – große Expansionsschritte oder ein Onlineshop sind nicht geplant. Tostmann möchte sich auf das konzentrieren, was das Unternehmen über die Jahre richtig ­gemacht hat: Dirndln und Trachten aus Österreich – in Österreich hergestellt.

Anna Tostmann-Grosser ist Geschäftsführerin von Tostmann Trachten. Das Unternehmen produziert Trachten und Dirndln in Österreich und vertreibt diese auch international.

Fotos: Christian Huber Fotografie

Lela Thun,
Redakteurin

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