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Der gebürtige Berliner Oliver Kharraz hat sich mit seinem New Yorker Start-up ein ur-amerikanisches Problem vorgenommen: das Gesundheitssystem. Im Dickicht von Versicherungen, Ärzten und unübersichtlichen Kosten will Zocdoc ein Marktplatz sein – für den Verbraucher.
Zocdocs Büroräume im neunten Stock eines Altbaugebäudes am Broadway im hippen Viertel Soho können etwa ein Drittel der 600 Zocdoc-Mitarbeitenden in New York aufnehmen. Aus den Fenstern sieht man die Dächer des alten Südens Manhattans: Backsteinbauten, Pflasterstraßen, Wassertürme. In Vorstellungsgesprächen für Zocdoc-Positionen fragt CEO Oliver Kharraz die Bewerber gerne nach ihrer Schätzung der Anzahl der Wassertürme in der Stadt. „Es geht um das analytische Denken, nicht um die tatsächliche Zahl“, sagt er. Kharraz ist gebürtiger Deutscher und packt mit seiner Firma ein ur-amerikanisches Problem an: das Gesundheitssystem.
Auf den ersten Blick scheint Zocdoc eine Terminbuchungs-App für Arztbesuche zu sein – in der App-Oberfläche gibt man die gewünschte Fachrichtung und den örtlichen Radius an, Zocdoc zeigt dann passende Arztpraxen an, zudem Bewertungen, Beschreibungen und spezielle Leistungen der Ärzte. So einfach, so gut. Doch in den USA ist es komplizierter: Zusätzlich sehen Nutzer, ob ihr Versicherungsplan
von einer Praxis angenommen wird und welche Leistungen angeboten werden; in Einzelfällen sogar, wie viel an Kosten für eine bestimmte Behandlung entstehen kann.
Kharraz nennt Zocdoc einen Marktplatz: „Ähnlich wie Airbnb für Urlaubswohnungen oder Expedia für Flüge – wir sind das für das Gesundheitswesen.“ Die Gründe für die Notwendigkeit eines Marktplatzes sind tief in der DNA des US-amerikanischen Sozialsystems verwurzelt. Es gab, so Kharraz, einen „Risikotransfer“: Finanzielle Risiken wurden sukzessive auf den Patienten umgewälzt. „Es gibt niemanden, der zur Aufgabe hat, dieses Risiko für den Konsumenten im Gesundheitsbereich zu managen – und das ist praktisch der langfristige Plan für Zocdoc: diese Firma zu werden.“
In den USA ist das ein Novum. Im Dickicht von Arztpraxen, Tausenden Versicherungsplänen und steten Unsicherheiten von Patienten, ob eine Behandlung wirklich von ihrer Versicherung übernommen wird und in welcher Höhe, will Zocdoc das „Bindegewebe“ sein. „Alle diese getrennten Systeme, zwischen Krankenversicherung und Arzt und der Apotheke und dem Krankenhaus – die verbinden wir und erlauben, Kontrolle über die eigene Gesundheitserfahrung zu übernehmen“, sagt Kharraz.
Das Thema Krankenversicherung ist in den USA kompliziert: Versicherungen tragen dabei die Kosten für einige Vorsorge-Behandlungen komplett. Für andere Behandlungen tragen Versicherte zunächst selbst die Kosten bis zum Aufbrauchen des Selbstbehalts und erst dann greift die Versicherung. Der Selbstbehalt kann dabei zwischen 1.500 und 7.500 US-$ für Einzelpersonen und zwischen 3.000 und 15.000 US-$ für Familien pro Jahr liegen.
Das Thema Krankenversicherung ist in den USA kompliziert: Versicherungen tragen dabei die Kosten für einige Vorsorge-Behandlungen komplett. Für andere Behandlungen tragen Versicherte zunächst selbst die Kosten bis zum Aufbrauchen des Selbstbehalts und erst dann greift die Versicherung. Der Selbstbehalt kann dabei zwischen 1.500 und 7.500 US-$ für Einzelpersonen und zwischen 3.000 und 15.000 US-$ für Familien pro Jahr liegen.
„Im Laufe der Zeit hat sich die Patientenverantwortung für eine Behandlung von null auf mehrere Tausend US-$ aufgeblasen“, sagt Kharraz. Das heißt auch: „Der Patient ist mehr und mehr selbst für die finanziellen Kosten einer Behandlung verantwortlich.“ Zocdoc versucht, Vergleichbarkeit zwischen den Optionen herzustellen: „Unser Ziel ist es, für den Konsumenten eine Plattform zu schaffen, die dieses komplett disparate und unverbundene Gesundheitssystem so zusammenbringt, dass sich tatsächlich Marktkräfte entfalten können und es sich als ein einheitliches System darstellt – ähnlich wie wenn du eine Reise buchst und da ja auch vorher weißt, was der Flug kostet. Ich glaube, so wird das System in den USA stabiler werden“, so Kharraz.
Ausgerechnet ein Deutscher will das US-amerikanische Gesundheitssystem verbessern – jemand, der in einem Land aufgewachsen ist, in dem man Arztpraxen quasi nie mit einer Rechnung verlässt. Doch genau dieser Außenblick sei auch Teil des Erfolgs von Zocdoc, sagt Kharraz: „Sicherlich hilft es bei der Perspektive auf das Problem, dass ich hier Immigrant bin.“ Zusätzlich helfen Kharraz’ persische Wurzeln: „Dadurch habe ich immer schon eine andere Sichtweise – auch auf Deutschland – gehabt.“
Er selbst ist in einer Familie aufgewachsen, die multikultureller nicht sein könnte, sagt er. Kharraz’ Vater wurde als politischer Aktivist in Persien gefoltert. Er flüchtete nach Deutschland und entschloss sich,
zu bleiben; lernte eine Frau kennen. Oliver Kharraz wurde 1973 in Berlin geboren. In jungen Jahren gründete er sein erstes Unternehmen, verkaufte es für einige 100.000 Mark und finanzierte damit sein Studium der Medizin und der Philosophie. Doch das Unternehmertum ließ ihn nicht los – die Lust auf Neues brachte ihn zu McKinsey. Kharraz spezialisierte sich auf die Schnittstelle zwischen Gesundheit und Technologie und zog in die USA.
Das Thema eigene Firma hatte er weiter im Kopf: „Wenn ich noch mal ein neues Unternehmen gründen will, dann sind die USA das richtige Pflaster, um wirklich große Probleme zu lösen“, so Kharraz’ zentraler Gedanke damals – und das Problem war schnell gefunden. Die Frage, wie man mit der Lösung Geld verdient, war hingegen ein längerer Weg: Nach Zocdocs Gründung im Jahr 2007 basierte das Bezahlmodell zunächst auf einem fixen Beitrag für Ärzte, die ihre Praxis in der Software listen wollten. 3.000 US-$ kostete das damals – ein Modell, das nur wenig funktionierte, denn manche Ärzte konnten für ihre 3.000 US-$ bis zu 10.000 Patienten akquirieren, kleinere Praxen nur zehn – für denselben Preis. „Für manche Ärzte waren wir also ein guter Deal, für manche war das viel zu teuer“, lässt Kharraz diese Zeit Revue passieren. Im Ergebnis sei Zocdoc in seinen ersten zehn Jahren nur begrenzt gewachsen, so der gebürtige Deutsche. Kharraz: „Wir steckten in der Falle dieses Businessmodells drin – und haben dann angefangen, umzustellen.“ Zocdoc führt ein Bezahlmodell ein, das sich nach der Anzahl neuer Patienten richtet. Ein komplexes Unterfangen – plötzlich spielen Gesetze aus den 1970er Jahren eine Rolle, die bezahlte Patientenempfehlungen verbieten.
Doch die Umstellung gelingt. Zocdoc schließt, laut Kharraz, 2015 seine letzte Venture Capital Runde ab. „Heute bekommen wir unser Geld durch die Buchungsgebühren von den Ärzten, wenn ein neuer Patient mit ihnen bucht,” sagt er. Eine massive Veränderung des neuen Businessmodells war auch die Möglichkeit, Werbung zu schalten; die meisten Kunden kommen jedoch durch Mundpropaganda. Zocdoc wächst jedenfalls: 60.000 Praxen und rund 50 Millionen Termine sind heute
bei Kharraz’ Unternehmen gelistet.
Ein möglicher IPO steht für Zocdoc noch in den Sternen, es wird aber damit geliebäugelt. Kharraz: „Aber natürlich – mit meinen deutschen Wurzeln mag ich Disziplin und wir verhalten uns intern schon so, als ob wir eine Public Company wären, bezüglich Compliance und Buchhaltung und all diesen Regularien. Ich glaube, das ist eine gesunde Einstellung für jede Firma.“
Oliver Kharraz wurde 1973 in Berlin geboren. Neben dem Studium der Medizin und der Philosophie gründete er bereits in jungen Jahren sein erstes Unternehmen. Über McKinsey führte sein Weg schließlich nach New York, wo er heute lebt – und sein Unternehmen Zocdoc sein Headquarter hat.
Text: Sarah Sendner
Foto: Sasha Charoensub