Bulletproof

Als Russland die Ukraine überfiel, konnte Madina Katter nicht tatenlos zusehen: Drei Wochen nach Kriegsbeginn kündigte sie ihren Job als Venture Builder, um ihr Non-Profit-Unternehmen Bulletproof Ukraine in Berlin zu gründen – und kugelsichere Westen für die Menschen im Kriegsgebiet herzustellen.

„Es war der 24. Februar, als mir klar wurde, dass sich mein Leben, das meiner Freunde und das aller Ukrainer für immer verändern würde“, erzählt uns Madina Katter, Gründerin von Bulletproof Ukraine, als wir sie in Berlin besuchen. An diesem Tag stießen russische Panzer ohne Kriegserklärung in die Ukraine vor, es gab Luftangriffe im ganzen Land. Präsident Wolo­dymyr Selenskyj rief daraufhin den Kriegszustand aus. Seither herrschte in der Ukraine Krieg – rund 6.490 Zivilisten kamen bis jetzt ums Leben und etwa 14 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht. Katter wollte in dieser Situation nicht untätig bleiben, die Menschen in der Ukraine unterstützen – und gründete daher gemeinsam mit Valentsionok Rostyslav Bulletproof Ukraine, ein Non-Profit-Unternehmen, das kugelsichere Westen herstellt.

Eine dieser Westen im Camouflagemuster zeigt uns Katter in Berlin – jedoch unbefüllt, denn normalerweise enthält die Weste auf der Vorder- und der Rückseite eine Metallplatte und ist somit acht Kilogramm schwer. Es ist eine Weste für Erwachsene; das Unternehmen konzentriert sich ausschließlich auf die Produktion solcher Modelle, da ansonsten erheblich mehr Forschung und Entwicklung erforderlich wäre. Jedenfalls könnten auch Kinder diese Westen tragen, es würden noch mehr Körperteile abgedeckt als bei Erwachsenen, sie wären nur etwas schwer, so Katter. Die kugel­sichere Weste selbst anziehen möchte sie beim Fotoshooting in Berlin allerdings nicht – es würde sich nicht richtig anfühlen, solch eine Weste in Berlin zu tragen, denn sie wäre für die Menschen gemacht, die sie brauchen, und nicht für sie selbst, sagt Katter.

Ich habe einen unendlichen Drang, weiterzumachen, weil wir damit etwas tun, das das Leben der Menschen nicht nur um 10 % verbessert – es kann tatsächlich ihr Leben retten.

Madina Katter

Obwohl sie keine Ukrainerin ist, fühlt Katter sich mit den Menschen in der Ukraine sehr verbunden. Sie wuchs zwar in Kasachstan auf, sagt aber: „Ich bin keine Kasachin, sondern eigentlich bin ich Uigurin.“ Jedoch kann sie kein Uigurisch, und Katter erzählt, dass sie nie wirklich das Gefühl hatte, zu einer bestimmten ethnischen Gruppe zu gehören. Deutschland würde allerdings ein wenig zu ihrer Persönlichkeit passen, sagt Katter, die nach ihrem Jura-Studium 2018 von Kasachstan nach Berlin zog. Später hat sie durch Reisen die Ukraine entdeckt und sich in das Land verliebt. „Wenn Sie mich also fragen, ob ich mich als Uigurin oder Kasachin bezeichne, weiß ich es nicht. Ich denke, ich bin einfach eine Weltbürgerin, die sich in Kiew und der Ukraine wiedergefunden hat“, so Katter.

Zu Beginn des Kriegs half sie bei freiwilligen Einsätzen in Berlin, etwa bei der Suche nach Un­ter­künften für Menschen, die in die deutsche Hauptstadt geflohen waren. In der zweiten Woche des Kriegs merkte Katter, dass sich bereits eine ganze Menge von Freiwilligen daran beteiligte, daher begab sie sich auf die Suche nach einem Bereich, in dem sie mehr und wirksamer zur Unterstützung der Ukrainer bei­tragen konnte. Auf Social Media stieß sie auf Postings von Ukrainern, die versuchten, Geld für schuss­sichere Westen zu sammeln bzw. diese zu kaufen. Also begann Katter, zu recherchieren, und kam zu einer ernüchternden Entdeckung: Eine kugelsichere Weste kostet im Durchschnitt 750 € – und sie waren sofort überall ausverkauft. Nicht nur war es schwierig, überhaupt zu einer schusssicheren Weste zu kommen, sie waren laut Katter auch noch extrem teuer. „Also dachte ich mir: Das sieht nach einem Bereich aus, in dem ich unterstützen kann“, erzählt Katter.

Die Idee, kugelsichere Westen für jene zu produzieren, die sie in der Ukraine benötigen, war geboren. Um das Ganze in die Tat umzu­setzen, holte Katter im März einen Freund aus der Ukraine als Mitgründer an Bord – Valentsionok Rostyslav. „Vor dem Krieg führte er eine der beliebtesten Bars in Kiew“, so Katter; das änderte sich aber schlagartig. Rostyslav ist ein ukrai­nischer Patriot, das war Katter sehr wichtig: „Man braucht jemanden, der nicht wegläuft, wenn die Dinge hitzig werden.“ Innerhalb von zwei Tagen gelang es Rostyslav, eine Metallwerkstatt in einem kleinen Dorf bei Tscherkassy, drei Stunden von Kiew entfernt, zu finden, wo mit der Produktion der Bulletproof-Westen begonnen werden konnte. „Es gab Situationen, in denen es Raketenangriffe gab, und dennoch blieb mein Mitgründer die ganze Zeit in der Produktionsstätte“, erinnert sich Katter zurück. Doch anders als Rostyslav, der vor Ort in der Ukraine ist, steuert Katter die Unternehmung aus der Ferne, und zwar aus Berlin. Dort besuchten wir sie auch, allerdings im Büro eines Freundes von Katter, denn sie selbst hat gar keines. Dazu sagt sie: „Im Allgemeinen mag ich Büros nicht wirklich. Ehrlich gesagt kann ich am besten arbeiten, wenn es laut ist und eine Menge Leute um mich herum sind. Deshalb arbeite ich gerne in Cafés, wenn es mir zu Hause zu langweilig wird.“

Dabei hatte sie früher einen Bürojob, als Venture Builder bei Founderslane in Berlin – bis sie ihr Unternehmen im März dieses Jahres gründete, um Menschen in der Ukraine zu helfen. Diese Ent­scheidung konnten Katters Eltern damals nur schwer nachvollziehen. „Manchmal habe ich versucht, etwas in unsere Familiengruppe zu schicken, weil ich natürlich sehr stolz auf jeden kleinen Schritt war, den wir als Unternehmen gemacht haben. Aber sie haben es einfach ignoriert, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, als sie irgendwie ihre Meinung änderten und anfingen, es zu akzeptieren. Irgendwann waren sie dann auch stolz auf das, was wir geschaffen haben“, erzählt Katter schmunzelnd.

Und das ist eine ganze Menge. Das Non-Profit-Unternehmen Bul­letproof Ukraine hat bereits 625 kugelsichere Westen produziert und diese an Menschen, die sie in der Ukraine benötigen, übergeben. Anfangs hat Katter ihr eigenes Geld, ein paar Tausend Euro, eingesetzt und den Rest durch Crowdfunding finanziert; bis heute ist das Unternehmen stark auf Crowdfunding und Spenden angewiesen. Bis Juli hat Bulletproof Ukraine hauptsächlich die ukrainische Armee unterstützt und an diese Bulletproof-Westen in Höhe der Produktionskosten, welche sich auf ungefähr 250 € belaufen, verkauft. „Unser Konzept war es, ein qualitativ hochwertiges Produkt herzustellen, das um 50 % des Marktpreises erhältlich ist“, so Katter. Im August beschlossen sie dann, die kugelsicheren Westen kostenlos abzugeben. „Da wir die einzige Wohltätigkeitsorganisation sind, die kugelsichere Westen herstellt, halten wir es für logisch, sie kostenlos an alle zu verteilen, die sie brauchen“, stellt Katter klar. Heute konzentriert sich Bulletproof Ukraine ausschließlich auf Zivilisten – Freiwillige, Sanitäter und Journalisten können sich auf der Unternehmenswebseite bewerben und müssen nachweisen, dass sie Zivilisten sind oder eine NGO vertreten. Zugeschickt werden die Westen ganz normal mit der örtlichen Post; das funktioniere sogar, wenn Raketenangriffe stattfinden, sagt Katter.

Hinter diesem Prozess steckt viel Arbeit. Als Katter anfing, dachte sie, es sei bestimmt einfacher, für eine Wohltätigkeitsorganisation zu arbeiten als für ein kommerzielles Unternehmen. In Wirklichkeit sei es aber viel schwieriger, denn man habe dieselbe Struktur wie jedes andere Unternehmen auch. Beispielsweise hat Bulletproof Ukraine ein Marketingteam, muss mit Kunden sprechen und nach Feedback fragen – allerdings kann das Unternehmen nicht so frei mit den Geldern umgehen, hat eine größere Verantwortung und muss in allem transparenter sein als ein herkömmlicher Marktakteur, erklärt Katter und sagt: „Man muss ständig Rechenschaft ablegen, denn jeder, der einen unterstützt, ist ein Stakeholder.“ Schließlich werden die kugelsicheren Westen von Bulletproof Ukraine nun mal durch Spenden finanziert.

Trotz der Herausforderungen sagt Katter: „Ich habe einen unendlichen Drang, weiterzumachen, weil wir damit etwas tun, das das Leben der Menschen nicht nur um 10 % verbessert – es kann tatsächlich ihr Leben retten.“ Die Nachrichten und Rückmeldungen der Leute, die erzählen, dass sie durch eine Bulletproof-Weste tatsächlich vor einer Kugel gerettet wurden, würden ihr enorm viel Kraft und Energie geben; so viel, dass sie sogar teilweise über zehn Stunden pro Tag arbeite, ohne dabei an Motivation zu verlieren.

Man braucht jemanden, der nicht wegläuft, wenn die Dinge hitzig werden.

Madina Katter

Aber es gibt auch andere Meinungen zu kugelsicheren Westen. Katter: „Leider sehen viele Leute schusssichere Westen als Militärprodukt, aber ich sehe das nicht so. Ich denke, es kommt darauf an, wem man dieses Produkt gibt oder für wen man die Westen her­stellt. Da wir uns darauf konzen­trieren, Leben zu retten, sehen wir kugelsichere Westen nicht als offensives Produkt. Die Westen dienen auf jeden Fall zum Schutz, vor allem, wenn man sie Sanitätern, Journalisten oder Freiwilligen gibt, denn die sind eigentlich dazu da, anderen Menschen zu helfen, und besitzen niemals Waffen.“

Die Nachfrage nach kugel­sicheren Westen von Bulletproof Ukraine sinkt allerdings, und so wird das Unternehmen wahrscheinlich noch vor Kriegsende die Produktion einstellen. Dadurch, dass viele westliche Staaten die Ukraine unterstützen, werden laut Katter immer weniger Bulletproof-Westen benötigt. Damit ist Katters Mission aber nicht zu Ende, sondern sie ist bereits jetzt dabei, ein neues Projekt in der Ukraine ins Auge zu fassen: Katter möchte die Organisation „Re:Ukraine“ dabei unterstützen, beim Fundraising für den Bau von Häusern in der Ukraine 700.000 € einzusammeln. „Re:Ukraine“ hilft Menschen, deren Häuser durch den Krieg zerstört wurden, und stellt ihnen vorüber­gehend Unterkünfte zur Verfügung.

Durch ihre Arbeit viel Geld zu verdienen sei ihr einfach nicht wichtig, sagt Katter. Im Vordergrund stehen für sie die Menschen in der Ukraine, die es schlechter haben als sie, und der Gedanke, ihnen auch mit dem nächsten Projekt weiterhin zu helfen, damit die betroffenen Menschen zu einem würdigen Leben zurückkehren können. Es würde sich für sie falsch anfühlen, so zu tun, als wäre nichts, während ihre Freunde in der Ukraine leiden, sagt Katter. „Ich bin nicht so mutig. Ich weiß nicht, ob ich im Moment in der Ukraine bleiben würde, denn es gibt erheb­liche Engpässe bei Strom, Wasser und in puncto Heizen. Außerdem gibt es regelmäßig Raketenangriffe auf das Stadtzentrum – und trotzdem bleiben die Leute in Kiew stark“, erzählt Katter. Und sie fährt fort: „Die Ukraine ist meine zweite Heimat, die ich ebenfalls schützen möchte. Solange dort Krieg herrscht, ist es meine moralische Verpflichtung, weiterzumachen.“

Die Ukraine ist meine zweite Heimat, die ich ebenfalls schützen möchte. Solange dort Krieg herrscht, ist es meine moralische Verpflichtung, weiterzumachen.

Madina Katter

Als Russland seine Invasion der Ukraine startete, gründete Madina Katter gemeinsam mit Valentsionok Rostyslav das Non-Profit-Unternehmen Bulletproof Ukraine, um kugelsichere Westen herzustellen. Finanziert wird Bulletproof Ukraine durch Spenden – über 9.000 € konnte Katter allein im ersten Monat einsammeln.



Fotos: Peter Rigaud
Datenrecherche: Magdalena Frei
Infografik: Valentin Berger
Quellen: cpj.org, ohchr.org, linkedin.com, bulletproof-ukraine.com, MOD Defence Intelligence, BBC

Lea Czimeg

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