Bildung für alle

Backtosch Mustafa gründete Applicaid, um jungen Talenten aus benachteiligten Verhältnissen Chancen auf Stipendien zu eröffnen. Obwohl der 27-Jährige bereits Tausenden geholfen hat, strebt er noch größere Ziele an – dafür legte er seinen Arztkittel in der Neurologie an der Charité Berlin ab und studiert nun Public Health an der Harvard University.

Für das Videointerview hat sich Backtosch ­Mustafa in einen Arbeitsraum der Countway ­Library of Medicine der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, gesetzt. Er spricht eloquent – und auch für seinen Wechsel vom Krankenhaus zurück in den Hörsaal im ver­­gangenen Jahr findet er treffende Worte: „Meine Entscheidung, nach Harvard zu gehen, war maßgeblich davon geprägt, dass ich meine Arbeit vom individuellen Heilen zur Heilung sozialer Strukturen weiterentwickeln wollte“, sagt der 27-Jährige.

Zu groß war für ihn offenbar seine Vision für die gemeinnützige ­Organisation Applicaid, die er im Jahr 2019 ins Leben rief. Das Angebot des in Hamburg eingetragenen Vereins richtet sich darauf, bestehende ­Stipendienprogramme für benachteiligte Gruppen ­zugänglicher zu ­machen. Mustafa erklärt: „In Deutschland gibt es über 3.000 verschiedene Stipendien – eine ­be­eindruckende Vielfalt, die weltweit ­einzigartig ist. Unser Ziel ist es, diese Programme zu erschließen und für alle Menschen gleichermaßen zugänglich zu machen.“

Diese Stipendien können vieles umfassen, von finanzieller Unterstützung bis hin zu Möglichkeiten wie Auslandsaufenthalten oder Konferenzen. Das Angebot geht weit über die klassische Studienförderung hinaus: So gibt es etwa Programme, die ausschließlich Mentoring anbieten, solche, die Zugang zu hochkarätigen Netzwerken schaffen, oder andere, die Sprach­stipendien ermöglichen. „Die Gemeinsamkeit all ­dieser Stipendien liegt in der Förderung von Poten­zialen, sei es durch finanzielle, ideelle oder bildungsfördernde Unterstützung“, fasst Mustafa zusammen.

Dass die Aufklärungsarbeit von Applicaid Früchte trägt, beweisen die Zahlen: Mehr als 10.000 junge Menschen profitierten bisher von den Programmen; es wurden Stipendien im Wert von 1,7 Mio. € vergeben. Die Organisation erhielt den European Citizen’s Prize für ihren sozialen Impact, und Mustafa wurde der Engagementpreis 2023 von der Studienstiftung des Deutschen Volkes verliehen.

Trotz der bisherigen Erfolge erkannte der Arzt, dass er etwas verändern muss, um noch mehr ­bewirken zu können. Er beendete seine Tätigkeit an der Charité-Klinik für Neurologie in Berlin, um an einer der renommiertesten Universitäten der Welt einen Master in Public Health zu starten. Mustafa hat die Arbeit als Arzt zwar sehr geschätzt, jedoch strebt er danach, in größerem Maßstab Einfluss zu nehmen: „Ich habe mich gefragt, wo ich persönlich am meisten bewegen kann“, so der 27-Jährige.

An verschiedenen Fakultäten der Harvard University lernt er nun, interdisziplinär zu denken und innovative Lösungen an der Schnittstelle von Technologie, sozialer Gerechtigkeit und Unternehmensführung zu entwickeln. Beispielsweise erfuhr er bei Kursen an der Harvard Business School, wie wichtig es ist, Einnahmequellen strategisch zu planen und die finanzielle Zukunft einer Organisation langfristig abzusichern. „Wir haben viele Balance Sheets analysiert und Geschäftsmodelle kritisch hinterfragt. Dabei wurde mir klar, wie wichtig finanzielle Nachhaltigkeit für sozialen Impact ist“, erzählt Mustafa.

Mit dem neu gewonnenen Wissen ausge­stattet widmet er sich voller Elan der Weiterentwicklung von Applicaid. Während sich die Organisation derzeit stark auf die individuelle Förderung bildungsbenachteiligter Personen konzentriert, plant das Team, auch systemische Veränderungen voranzutreiben. „Ein Schwerpunkt, an dem wir künftig stärker arbeiten wollen, ist die Zusammenarbeit mit Stipendien­gebern und Stiftungen“, so Mustafa. Ziel sei es, inklusivere Bewerbungsverfahren zu entwickeln: „Es geht darum, talentierte Menschen zu identi­fizieren, ohne dass sie durch Ausschlussmechanismen im Auswahlprozess benachteiligt werden.“

Sein Wunsch nach einer Gesellschaft, in der talentierte Menschen gleiche Chancen erhalten, ist eng mit seinem eigenen Lebensweg verknüpft. Aufgewachsen in Hamburg als Sohn afghanischer Eltern, die aufgrund des Konflikts in ihrem Heimatland in den 1990er-Jahren nach Deutschland flüchteten, war sein Bildungsweg nicht immer von der ­Gewissheit geprägt, dass er den akade­mischen Weg erfolgreich meistern würde. Mustafa erinnert sich daran, dass er in der Schule von einem Lehrer die Empfehlung erhielt, auf das Abi­tur zu verzichten: „Er hat kein Potenzial in mir gesehen, dass ich das überhaupt schaffen könnte.“ Stattdessen solle er doch eine „gute Ausbildung“ beginnen.

Diese Worte hätten ihn entmutigen ­können, doch glücklicherweise hatte Mustafa Eltern, die fest an ihn glaubten. Diese Unterstützung, ­gepaart mit einem neuen Umfeld in der Oberstufe und der Möglichkeit, sich selbst heraus­zufordern, gab ihm das nötige Selbstvertrauen, um ­seinen ­eigenen Weg zu gehen: „Ich konnte an mich selbst glauben und erkennen, dass ich mehr er­reichen konnte, als man mir zugetraut hatte.“ Durch die Unterstützung seines Sitznachbarn ­erfuhr er von der Möglichkeit, sich für ein Schüler-Stipendium zu bewerben, das er schließlich erhielt. „Damit hat sich eine riesige neue Welt für mich ­geöffnet“, erinnert sich Mustafa. Vom mittel­mäßigen Schüler entwickelte er sich zu ­einem Ausnahmekönner. So gehörte er zu den besten 0,1 % im Teilbereich Mathematik und Naturwissenschaften des Medizin-Aufnahmetests an der Universität Hamburg.

Doch mit der Zeit erkannte er ein strukturelles Problem: Stipendien sind oft privilegierten Gruppen vorbehalten. Dieses Ungleichgewicht motivierte ihn zum Handeln. Der entscheidende Moment für die Gründung von Applicaid geschah im Jahr 2018 auf der Konferenz Harvard World Model United Nations in Panama, die er dank ­eines weiteren Stipendiums besuchen konnte: Ein Förderprogramm aus New York war auf der Suche nach innovativen sozialen Ideen – spontan stellte Mustafa ein Pitch Deck zusammen und präsentierte seine Vision: ein System, das benachteiligten Gruppen den Zugang zu Stipendien erleichtert. Die Idee überzeugte, und er erhielt nicht nur Unterstützung durch Angel-Investoren, sondern wurde auch in ein Förderprogramm aufgenommen, das ihn mit Seed Funding, Coaching und einem Netzwerk ausstattete.

Entscheidend für den Erfolg von Applicaid war und ist das Engagement rund 60 ehren­amtlicher Helfer, von denen viele selbst aus ­bildungsbenachteiligten Verhältnissen stammen. „Die ersten Leute, die bei uns mitgemacht haben, hatten fast alle einen persönlichen Bezug zum Problem“, so Mustafa. Dass Mitarbeiter potenzielle Kandidaten empowern, steht an der Tagesordnung. „Das war für uns ein großer Vorteil“, betont Mustafa, „dadurch konnten wir auf teure Marketingmaßnahmen verzichten, weil unsere Botschaft direkt und authentisch bei den Menschen ankam.“ Die Applicaid-Helfer teilen ihre persönlichen Geschichten, um zu zeigen, dass es möglich ist, ein Stipendium zu erhalten, auch wenn man nicht den klassischen Elite-Hintergrund hat. „Es macht einen großen Unterschied, wenn jemand sagt: ‚Ich habe es geschafft, also kannst du das auch!‘“, so Mustafa.

Einer der häufigsten Gründe, warum Leute sich nicht für ein Stipendium bewerben, ist, dass sie denken, sie kommen dafür nicht infrage.

Backtosch Mustafa

Zudem setzte Applicaid früh auf eine klare Nischenstrategie. „Wir haben uns bewusst auf ­einen kleinen Bereich fokussiert und dort ex­zellent gearbeitet. Diese Spezialisierung hat uns geholfen, sichtbar zu werden und mit der Zeit zu expandieren“, erklärt der Gründer. Die finanzielle Basis der Organisation aufzubauen war ein stetiger Prozess: „In den ersten Jahren haben wir uns größtenteils über Preisgelder finanziert.“ Das sei ein wichtiger Schritt gewesen, um den Verein sichtbarer zu machen und erste Mittel zu generieren. Denn Wettbewerbe bieten nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch eine Bühne, um die Vision vorzustellen.

Mustafas persönliche Verbindung zum Thema kam beim Aufbau von Vertrauen bei Stiftungen, Investoren und Partnern gut an. „Für viele ist es zentral, wie stark die Motivation ist und wie glaubwürdig der Einsatz wirkt. Ich konnte immer sagen, dass ich das Problem aus ­eigener Erfahrung kenne und es lösen möchte. Authentizität ist letztlich entscheidend“, erklärt der Gründer.

Ein Meilenstein für Applicaid war eine Förderung der Stadt Hamburg in Höhe von knapp 100.000 €. Auch bei Stiftungen spielte die Beziehungspflege eine große Rolle – viele Förderer kannten das Team bereits und vertrauten darauf, dass die Mittel sinnvoll eingesetzt werden. Mustafa: „Vertrauen ist der Schlüssel. Stiftungen und Partner müssen sicher sein, dass man auch bei Schwierigkeiten durchhält und Lösungen findet.“

Der 27-Jährige hat eine klare Haltung, wenn es um finanzielle Entlohnung für seine eigene ­Arbeit geht: Obwohl er maßgeblich zum Erfolg der Organisation beiträgt, verzichtet er bewusst darauf, sich selbst ein Gehalt zu zahlen. „Ich habe das große Privileg gehabt, durch Stipendien finan­ziell unabhängig zu sein. Dadurch bin ich nicht darauf angewiesen, mich selbst zu bezahlen. Mein Fokus lag immer darauf, unsere Mit­arbeitenden zuerst zu entlohnen“, stellt er klar.

Die großen Hürden im Zugang zu Stipendien sind laut Mustafa noch lange nicht abgebaut: Viele Menschen sind sich oft nicht bewusst, dass sie die Voraussetzungen für Stipendien mitbringen, und glauben daher nicht an ihre Chancen. „Einer der häufigsten Gründe, warum Leute sich nicht für ein Stipendium bewerben, ist, dass sie denken, sie kommen dafür nicht infrage“, bestätigt Mustafa. Besonders verbreitet sei das Vor­urteil, dass Stipendien ausschließlich für akademische Überflieger oder die gesellschaftliche Elite gedacht seien – ein Mythos, der viele ­potenzielle Bewerber abschreckt. Ein weiteres Problem ist, dass viele bildungsbenach­teiligte Gruppen oft nicht wissen, dass es Stipendien gibt. Hier setzt Applicaid an, indem der ­Verein umfang­reiche Informa­tionen bereitstellt und Aufklärung betreibt.

Studien zeigen, dass Menschen aus bildungsbenachteiligten Gruppen – wenn sie sich denn überhaupt bewerben – oft schlechtere ­Chancen auf eine Zusage haben. Eine Studie der Initiative für transparente Studienförderung (ItS) zeigt, dass Akademikerkinder und Studierende ohne Migrationshintergrund häufiger Stipendien erhalten. Akademikerkinder bewerben sich öfter (64,6 % vs. 59,1 %) und haben eine höhere Erfolgsquote (40 % vs. 33 %) als Nichtakademikerkinder. Studierende mit Migrationshintergrund bewerben sich generell seltener für Stipendien und haben auch weniger Erfolg als ihre Kommilitonen ohne Migrationshintergrund (20,9 % vs. 22,4 %). „Bildungsinländer“ mit Migrationshintergrund sind dabei besonders benachteiligt, während ­„Bildungsausländer“ tendenziell häufiger Be­werbungen einreichen.

In diesem Zusammenhang bietet ­Applicaid Unterstützung durch individuelles Mentoring, ­Simulationen von Auswahlgesprächen und praktische Hilfe bei der Vorbereitung. „Wir begleiten die Leute durch die gesamte Stipendienreise – von der Information über die Bewerbung bis hin zur erfolgreichen Aufnahme“, so Mustafa. Den endgültigen Erfolg der Initiative hat er klar de­finiert: „Das Ziel ist, dass unsere Arbeit irgendwann nicht mehr benötigt wird.“

Fotos: beigestellt

Paul Resetarits,
Redakteur

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