Annas Fight

Anna Veiths Karriere ist eine rot-weiß-rote Heldengeschichte: der steile Aufstieg eines Megatalents, triumphale Siege vor Tausenden Fans, eine niederschmetternde Verletzung und der Kampf zurück an die Weltspitze. Forbes hat mit der Ex-Skirennläuferin über Highlights und Tiefpunkte ihrer Laufbahn gesprochen – aber auch darüber, wofür sie jetzt brennt.

Wenn nach österreichischen Superstars aus der Sportwelt gefragt wird, darf der Name Anna Veith nicht fehlen. Klar, es gibt Marcel Hirscher, David Alaba und Dominic Thiem, etwa gleich­altrige Weltklasse-Athleten, die die prestigeträchtigsten Trophäen in den Himmel gestreckt und Millionensummen mit Verträgen, Preisgeldern und Werbedeals lukriert haben – aber Anna Veith ist das weibliche ­Pendant zu den genannten Herrschaften. Die Salzburgerin hat alles abgeräumt, was es auf Skipisten zu holen gibt. Wer aufgrund ihres Promistatus und der beein­druckenden Titelsammlung eine Diva mit Starallüren erwartet, der irrt – seit ihrem Rückzug aus dem alpinen Skizirkus im Jahr 2020 unterstützt die 34-Jährige ihren Ehemann Manuel Veith im gemeinsamen Hotelbetrieb, der nur einen Katzensprung vom Schladminger Stadtzentrum entfernt ist. Die Gastgeberin, im siebenten Monat mit ihrem zweiten Kind schwanger, serviert ihren Gästen Cappuccino. Unweigerlich drängt sich die Frage nach ihrer Kindheit auf, wo der Grundstein für ihre Bodenständigkeit gelegt wurde.

„Ich bin, bis ich fünf Jahre alt war, am ­Bauernhof in Bad Dürrnberg bei meinen Groß­eltern aufgewachsen“, erzählt Veith. Ihre ein Jahr ältere Cousine, die im gleichen Haushalt aufwuchs, sei „wie eine große Schwester“ gewesen. „Alles, was sie gemacht hat, wollte ich auch ­machen“, sagt Veith und lächelt. Als ihr großes Vorbild die ­ersten Schwünge am Dürrnberg zog, konnte sie nichts davon abhalten, auch die Kinderski anzuschnallen. 1999 wechselte sie auf die Skihauptschule in Bad Gastein. Veiths Talent blieb dort bei den Trainern nicht lange unentdeckt: Bereits im ersten Jahr fuhr sie Schulkollegen aus der zweiten und dritten Klasse um die Ohren. „Ich habe mir beim Lernen sehr leichtgetan und konnte das ­Gelernte schnell umsetzen; das würde ich als Talent bezeichnen. Wenn du etwas schnell lernst, kommst du schnell weiter“, meint Veith.

Die Oberstufe absolvierte sie an der Ski­hotelfachschule in Bad Hofgastein, zwei Jahre lang war Marcel Hirscher ihr Klassenkamerad. Zwischen 2002 und 2004 eroberte Veith sechs österreichische Schülermeistertitel. Fast ausnahmslos schnappte sie sich jeden Titel, der im Nachwuchs eine Bedeutung hat: im Februar 2005 den österreichischen Jugendmeistertitel im Riesen­slalom, 2006 den Gesamtsieg im Europacup sowie zwei Goldmedaillen bei den Juniorenweltmeisterschaften in Québec; 2017 krönte sie sich zur Europacupgesamtsiegerin. Die Technik­trainer des Damenweltcupteams entschieden, das erst 17-jährige Megatalent im Weltcup starten zu lassen. In der Champions League des alpinen Skisports tat sie sich zu Beginn schwer. „In den Schlagzeilen hieß es: Das wird die neue ­Annemarie Moser-Pröll“, erinnert Veith sich und gesteht: „So eine Aussage war für mich schon schwer zu verkraften.“

Die ersten Jahre im Weltcup bezeichnet sie als Lernprozess, bei dem sie durch „Scheitern und Misserfolge“ erfuhr, was es braucht, um an die Spitze zu kommen. In der Anfangszeit trat sie in allen Disziplinen an und fand sich im Mittelfeld wieder – denn durch die Mehrfachbelastung konnte sich die Allrounderin in keiner Disziplin entscheidend weiterentwickeln. „Ich war sehr niedergeschlagen von den Niederlagen, und davon, dann von außen zu hören: ‚Du müsstest ja viel ­besser sein!‘“, erzählt sie. Der überraschende Weltmeistertitel im Februar 2011 in Garmisch-Partenkirchen öffnete ihr die Augen bei der ­Prioritätensetzung: Veith richtete ihren Fokus fortan auf Speedrennen (Abfahrt und Super-G) und strich die Slalomrennen aus ihrem Weltcup­kalender. Eine goldrichtige Entscheidung – Veith steigerte sich in den nächsten Jahren kontinuierlich, fuhr regelmäßig aufs Stockerl und gewann ihre ersten Weltcuprennen. Ihre Nervenstärke bei Großereignissen rief sie am 15. Februar 2014 ab: Sie raste mit einer halben Sekunde Vorsprung auf Maria Höfl-Riesch zu Super-G-Gold bei den Olympischen Winter­spielen in Sotschi. Neben zweimal Edelmetall (sie gewann auch Silber im Riesenslalom) nahm sie eine Riesenportion Selbstvertrauen aus Russland mit – die frischgebackene Olympia­siegerin gewann die letzten drei Riesenslaloms der Saison 2013/14 und krönte sich vor Rivalin Höfl-Riesch zur Gesamtweltcupsiegerin. Der Hype ging jetzt so richtig los: Kaum ein Tag verging ohne den Namen Fenninger (wie Veith damals noch hieß) in der österreichischen Presse, Unternehmen rissen sich darum, den Shootingstar als Markenbotschafterin zu gewinnen, und Fans hingen an ihr wie Kletten. „Es war schön, hat aber auch sehr viel Energie gekostet. Menschen sind auf mich zugekommen und haben mich angesprochen, als ob sie mich ewig kennen würden. Ich war mir oft unsicher, ob ich die Person kenne oder nicht“, erzählt Veith.

Frauen machen ihren Job genauso gut wie Männer. Wie in vielen Branchen muss man im Skisport nachziehen und sich starkmachen.

Anna Veith

In der Folgesaison lastete so viel Erfolgsdruck wie noch nie auf ihr – bei jedem ­Rennen ging sie nun als Favoritin an den Start. Anfang 2015 drohte die Slowenin Tina Maze der besten Skifahrerin der Welt den Rang abzulaufen: 370 Punkte betrug der Rückstand der Salzburgerin auf die im Gesamtweltcup führende Maze nach dem Nachtslalom von Flachau am 13. Jänner. Mit dem Rücken zur Wand lief Veith wieder zu Höchstform auf und legte eine der legendärsten Aufholjagden in der Weltcupgeschichte hin. Wieder war es ein Großereignis, bei dem die Salz­burgerin eiskalt zuschlug und so richtig in Fahrt kam: Gold im WM-­Super-G von Beaver Creek, Silber in der Abfahrt, Gold im Riesenslalom. Direkt nach der Welt­meisterschaft in Übersee fuhr sie 13 Rennen en suite in die Top Ten, davon fünf Siege.

Durch ihre Überform machte Veith die Saison noch mal richtig spannend, die Gesamtweltcupführung wechselte im März 2015 mehrmals zwischen ihr und Maze. „Mich hat die Konkurrenz immer stärker gemacht. Wir haben beide geliefert, es hat sich bis zum letzten Rennen aufgeschaukelt“, sagt Veith heute. 18 Punkte lag Maze vor dem alles entscheidenden Riesentorlauf in Méribel voran. Die rechnerische Ausgangslage war klar, in der Hand hatte es die Österreicherin aber nicht mehr: Veith musste siegen, Maze durfte nicht Zweite werden (Erstplatzierte erhalten 100 Punkte, Zweitplatzierte 80 Punkte). „Das war das schwierigste Rennen in meiner ganzen Karriere – ich glaube, für sie war es genauso“, so Veith. Im ersten Durchgang trat genau das oben ­erwähnte Szenario ein: Veith fuhr Bestzeit, Maze lag auf dem zweiten Platz. Durch die umgekehrte Reihen­folge ging die Slowenin im zweiten Durchgang zuerst ins Rennen und klassierte sich hinter Eva-Maria Brem auf Rang zwei. „Ich wusste, ich muss alles riskieren und darf auch keinen Fehler machen, denn bei einem ­Fehler ist alles vorbei“, erzählt Veith. Sie blieb fehlerlos, gewann das ­Rennen und damit ihre zweite große Kristall­kugel, die Trophäe für Gesamtweltcupsiege. ­„Dieser Konkurrenzkampf hat uns beide zu ­unseren ­Höchstleistungen getrieben. Ich war ­sicher in dieser Phase die stärkste Anna in meiner Karriere“, sagt die Ex-Rennläuferin heute.

Abseits des Renngeschehens keimte ein ­Konflikt mit dem Österreichischen Skiverband (ÖSV) auf, der im Mai 2015 geleakt wurde: Ein privates, von Veith selbst verfasstes und an den Sportverband gerichtetes E-Mail, in dem sie vom ÖSV mehr Unterstützung forderte, gelangte an die Öffentlichkeit. „Es war ein sehr intensives Jahr. Ich hatte davor schon das Patellaspitzen­syndrom (Entzündung der Patellasehne, die die Kniescheibe mit dem Schienbein verbindet, Anm.) unterhalb des linken Knies gehabt, habe es über Jahre mitgeschleppt und dadurch täglich physiotherapeutische Betreuung vor Ort gebraucht. Für den Konditionstrainer, der genauso wichtig für den Erfolg war, musste ich selbst aufkommen.“ Bei den Herren gab es jemanden, der vom ÖSV ein echtes Superstar-Treatment mit mehreren Trainern und Therapeuten zur Verfügung gestellt bekommen hatte. „Mein Pendant Marcel Hirscher hat das Gleiche erreicht, war auch Weltmeister und Gesamtweltcupsieger. Warum sollte man da einen Unterschied machen?“, fragt sie sich noch heute. Doch anstatt eine vollkommene Gleichbehandlung in Gang zu setzen, strebte der ÖSV einen Kompromiss an, der über zähe Verhandlungen im Sommer erreicht wurde. „Das hat mich sehr viel Energie gekostet. Ich habe mein Team dann neu aufstellen können, aber musste auch Abstriche machen“, so Veith.

Gegenüber Forbes steht sie auch knapp neun Jahre später zu ihrer Empowerment-Forderung. „Frauen machen ­ihren Job genauso gut wie Männer. Wie in vielen Branchen muss man im Skisport nachziehen und sich starkmachen“, sagt Veith. Zumindest die Preisgelder sind damals wie heute sowohl bei Frauen als auch bei Männern (aktuell durchschnittlich 50.000 €) gleich hoch angesetzt. Klar ist: Den größten Teil ihres Ver­mögens hat die heute 34-jährige Salzburgerin ohnehin durch Werbeeinnahmen erzielt. Im Jahr 2020, wenige Tage nach ihrem Karriereende, listete das Marktforschungsinstitut Marketagent Veith auf Rang drei der beliebtesten Werbe­testimonials Österreichs. Ihre aktuellen Werbepartnerschaften umfassen Unternehmen wie Audi, Rauch und Visa. Derzeit ist sie auf Plakaten in ganz Österreich als Model für das italienische Label Calzedonia zu sehen.

Ein möglicher Grund für Veiths Beliebtheit ist ihre Comeback-Geschichte, die mit ihrem ­un­bändigen Willen zusammenhängt. Am 21. Oktober 2015 erlitt sie bei einem Sturz im Training ­einen Kreuz- und Innenbandriss, einen Patella­sehnenriss sowie einen schweren Meniskus­schaden im rechten Knie. In ihrer Verletzungspause wurde sie im März 2016 für den Laureus Award als Weltsportlerin des Jahres nominiert und ­heiratete ­ihren langjährigen Lebens­gefährten Manuel Veith. Unermüdlich schuftete sie am Comeback und kehrte im Dezember 2016 wieder in den Weltcup zurück. Doch die chronische Entzündung in ihrem linken Knie, die sie seit Beginn ihrer Karriere hatte, bremste sie nach ­wenigen Rennen wieder aus. „Ich hatte so viele Schmerzen, dass ich nicht mehr wusste, ob es Phantomschmerzen oder echte Schmerzen ­waren“, erinnert sie sich. Veith entschied sich für eine Operation und damit für eine erneute Zwangspause. Experten hatten sie schon abgeschrieben, doch sie performte in der Saison 2017/18 wieder auf Welt­klasse­niveau: Sie gewann noch einmal ein Welt­cup­rennen und holte Silber im Super-G bei den Olympischen Winterspielen 2018. Nach einem erneuten Kreuzbandriss im rechten Knie im ­Alter von 29 Jahren änderten sich die Prioritäten in ihrem Leben. „Ich wollte endlich zu Hause ankommen, nicht mehr so viel reisen und das Familienleben genießen“, so Veith. Offiziell be­endete sie ihre Karriere am 23. Mai 2020; 2021 wurden sie und ihr Mann Eltern ­eines Sohnes.

Für Veith bleibt der Sport weiter ein zen­traler Aspekt ihres Lebens. Als Mentorin gibt sie ihr Know-how der 19-jährigen Skirennläuferin Viktoria Bürgler weiter. Das Forbes-Gespräch ist mittlerweile ins Sportgeschäft verlagert, das 2018 an das Hotel angebaut wurde – Veith zeigt die ­Vitrine, in der sich die beiden 46 Zentimeter ­großen Kristallkugeln befinden, von denen sie als junge Athletin geträumt hat. Jetzt hat sie andere Träume, die weniger mit Brettern oder Kristall zu tun haben – nach der Geburt ihres zweiten ­Kindes will sie ein neues Projekt starten, wie sie ­Forbes verrät: „Ich darf noch nicht so viel dar­über sagen, aber es hat mit Fitness zu tun.“

Anna Veith, geboren am 18. Juni 1989, ist eine ehemalige österreichische Skirennläuferin. Mit zwei Gesamt­weltcupsiegen, einem Olympiasieg und drei Weltmeistertiteln zählt sie zu den erfolgreichsten Athletinnen in der Geschichte des alpinen Skisports.

Fotos: Philipp Horak
Infografik: Valentin Berger, Emin Hamdi

Paul Resetarits,
Redakteur

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