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„Dadurch, dass wir Nachhaltigkeit vor allem unter dem Scheinwerfer der – meist fehlenden – Moral betrachten, fühlen Unternehmen sich nicht zuständig.“
- Jule und Lukas Bosch
Woran liegt es, dass wir uns mit Händen und Füßen gegen die Welle wehren wollen, die da auf uns zukommt und droht, uns zu überrollen? Unternehmen, Politik, Einzelne – wir alle sträuben uns gegen die Veränderung, die längst vom Vorgarten ins Treppenhaus wabert. Erneuerbare Energien massiv ausbauen? Puh, ne, die Rotorblätter sind so laut, lass erst mal schauen, was man mit Gas und Atom so machen kann. Weniger Fleisch essen? Ähem, nein danke, weil Erbsenburger sind ja so stark verarbeitet, das ist doch ungesund! Aufs Elektroauto umsteigen? Wie bitte?! Das bringt doch aktuell noch gar nichts, dazu brauchen wir erst mal eine ordentliche Energiewende! Und schwupp, alles zurück auf Anfang. Wir ziehen also lieber die vorsichtshalber gekauften gelben Gummistiefel an – und bekommen dennoch nasse Zehen. Nicht wenige von uns seit letztem Sommer sogar buchstäblich.
Einer der Gründe: Kurzsichtigkeit. Hätten wir statt der Gummistiefel lieber mal Omas Brille ausgeliehen! Meine Oma konnte, als ich klein war, mit ihrer Brille noch durch Wände sehen. Da, auf der anderen Seite der Wohnzimmertapete, ganz deutlich: ein Schrank, ein Sofa, ein Computer. Und das in den 90ern, als die meisten Unternehmen sich noch im Einklang mit dem tinnitusartigen Piepsen des Faxgeräts sicher waren: „Digitalisierung? Das geht vorbei! Wir konzentrieren uns lieber auf unsere Kernkompetenzen!“ Und ja, irgendwann sind wir dann doch auf den Trichter gekommen, dass wir uns mit Digitalisierung sehr viel besser auf unsere Kernkompetenzen konzentrieren können, als ohne – damn! Doch die Leitung, mit der wir diese Information in Einsen und Nullen (mit vielen Eurozeichen dahinter) umgewandelt haben, war ganz schön lang.
Das können wir doch eigentlich besser, finden Sie nicht? Müssen wir wirklich beim nächsten großen global relevanten Thema wieder die gleichen Fehler begehen – erst leugnen, dann abwinken, dann hinterherhinken? Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen damit geht, aber mir erscheint das vollkommen unlogisch, geradezu grotesk. Könnte auch an den Gummistiefeln liegen, die ich immer noch anhabe – just in case, falls die Welle doch nur eine Pfütze hinterlässt und nicht, wie vom Großteil der Wissenschaftler*innen prognostiziert, den Meeresspiegel eklatant ansteigen lässt. Könnte doch sein!
Was diesmal, beim Thema Nachhaltigkeit, neben der Kurzsichtigkeit noch maßgeblich zum Tragen kommt, ist unser ebenfalls angeborener Fokus auf Hindernisse. Unbebrillt schauen wir in die Welt und sehen, als sei das ein analoger Instagram-Filter auf unseren Netzhäuten: Hürden! Hürden, überall! Verstehen Sie mich nicht falsch – Hürden zu sehen ist wichtig. Noch wichtiger und dabei fast so banal wie genial ist es aber, Hürden zu nehmen! Und zwar die richtigen, die, die auf dem Weg Richtung Ziel stehen, nicht die, die nur da sind, um den Weg zum Hotdogstand im Stadion zu finden und gar nicht erst lossprinten zu müssen.
Nachhaltigkeit ist heute ein so offensichtliches Problem, dass es sich jeden Abend in die Tagesschau schmuggelt – nicht nur gefühlt schon seit den 70ern. Doch wie sagt man so schön: Der Ton macht die Musik! Der Ton, den wir hören, klingt so: „Wir müssten, wir sollten, es wird uns Milliarden kosten.“ Nachhaltigkeit ist ein Problem für Unternehmen. Es kostet viel Geld. Es wirft ein schlechtes Licht auf die Wirtschaft. Wer sich kümmert, verliert gegen den internationalen Wettbewerb. Das ist das Narrativ, mit dem wir versuchen, uns einzureden, dass wir uns lieber nicht bewegen sollten. Erst mal die anderen machen lassen und gucken, was passiert. Kommt Ihnen bekannt vor? Mir auch! Leider!
Dieser Text ist, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben, trotz des in Medien und Öffentlichkeit moralisch bis zum Maximum aufgeladenen Themas Nachhaltigkeit gerade keine Moralkeule. Dass wir die nämlich alle seit Jahrzehnten wie wild durch die Gegend schleudern, ist (neben Kurz- und „Hürdensichtigkeit“) Ursache Nummer drei für die Schrittgeschwindigkeit in Sachen Ökotransformation der Wirtschaft. Die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft besteht nämlich plain and simple gerade nicht darin, selbstlos zu helfen, sondern darin, in einer Win-win-Interaktion Probleme zu lösen. Dadurch, dass wir Nachhaltigkeit vor allem unter dem Scheinwerfer der – meist fehlenden – Moral betrachten, fühlen Unternehmen sich nicht zuständig. Doch das ist genauso schlecht für den Planeten wie für die Unternehmen selbst, berauben sie sich doch damit ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit, indem sie nicht nur Kundenbedürfnisse verschlafen und Innovationspotenziale übersehen, sondern ihre eigenen Grundlagen sehr nachhaltig beseitigen: funktionierende Gesellschaften und gesunde Ökosysteme. Statt der Moralkeule packe ich also hier die Innovationskeule aus. Die zu schwingen macht auch sofort sehr viel mehr Spaß – please try this at home (office)!
Im Angesicht des steigenden Meeresspiegels (Rising Sea Level) und all der anderen Probleme, vor die wir uns selbst durch die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten und wirtschaften, stellen, ist es allerspätestens jetzt an der Zeit für ein „Rising C-Level“, eine möglichst große Gruppe von Entscheider*innen in Unternehmen, die aufstehen, die verstehen, welches Potenzial wir da gerade durch wiederholte (!) Veränderungskurzsichtigkeit, die Fokussierung auf (angebliche) Hürden und ausartende moralische Grundsatzdiskussionen verspielen. Hier bedeutet Aktivismus ausnahmsweise mal nicht „dagegen sein“ – gegen die Politik, gegen die Wirtschaft –; nein, Unternehmensaktivismus bedeutet, Chancen zu erkennen und zu ergreifen. Wenn sie gegen irgendetwas geht, diese neue Form des Unternehmens, dann gegen das Unterlassen.
Denn: Der lebensbedrohliche Klimawandel existiert, Weltretten ist ein valides Kundenbedürfnis und die Relevanz von Unternehmen entscheidet sich heute – vielleicht noch ein Quäntchen mehr als früher – über die Relevanz der Probleme, die sie lösen. Diese Transformation, die da vor uns liegt, ist dabei alles andere als ein Trauerspiel im Angesicht des Unausweichlichen (aka Weltuntergang): Sie ist das wohl lustvollste (Innovations-)Projekt, dem man das eigene Leben heute widmen kann, denn sie schafft nicht nur Lebensqualität im Morgen, sondern (für die Hardcore-homines-oeconomici unter uns) auch Karriereopportunitäten und Unternehmenswachstum im Heute. Und das sogar im Einklang mit den eigenen moralischen Überzeugungen! Okay, ja, das mag für C-Level-Leader gegebenenfalls erst mal gewöhnungsbedürftig sein, aber was soll’s? Ein kleiner Schritt für … – und so weiter, ihr wisst schon. Liebes Rising C-Level, wir zählen auf euch!
Jule Bosch und Lukas Bosch sind selbstständige Consultants, Speaker und Autoren. Sie sorgen sowohl in Beratungsprojekten als auch unternehmerisch dafür, dass Nachhaltigkeit als Businesspotenzial erkannt wird. Gemeinsam haben sie das Biodiversity-Start-up Holycrab gegründet und das im Campus Verlag erschienene Buch „ÖKOnomie“ geschrieben.
Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 2–22 zum Thema „Innovation & Forschung“