NUR MOBILE GESELLSCHAFTEN SIND INNOVATIV

Darum muss Europa jetzt in das Reisen der Zukunft investieren.

Nichts macht den Menschen glücklicher als die Liebe und das Reisen, schreibt der in Zürich geborene Philosoph Alain de Botton. Der Geis­tesmensch war schon Flughafenschreiber von Heathrow, dem monströsen und nervenzehrenden Londoner Mega-Airport – der Mann muss also wissen, wovon er spricht.

Liebe kann zerbrechen, Beziehungen können scheitern. Trotzdem sehnen wir uns ein Leben lang nach Zuneigung und Zweisamkeit. Ähnlich resistent ist das Fernweh. Zugegeben, wir haben schon viel Lebenszeit auf verstopften Autobahnen, in verspäteten Zügen und mit ausgefallenen Flügen verschwendet. Ja, wir haben oft in kalten und gesichtslosen Business­hotels eingecheckt. Und trotzdem freuen wir uns auf den nächsten Urlaub oder den Geschäftstrip, der uns an neue Orte und zu interessanten Menschen führt, denn jede Reise ist ein kleines Abenteuer – und zum Abenteuer gehört, dass es nicht immer nur angenehm ist.

Mobilität und Bewegungsfreiheit sind menschliche Grundbedürfnisse – ich würde sogar sagen: Es sind mit die wichtigsten Grundrechte. Ohne Mobilität kann es keine gesellschaftliche Teilhabe geben, und nur mobile Gesellschaften sind frei und somit innovativ.

Wie sehr wir das Reisen vermisst haben, zeigt sich im ersten Jahr nach dem (vorläufigen) Ende der Pandemie. Transportunternehmen und -dienstleister haben die Coronakrise genutzt, um Stellen zu streichen und Kosten zu senken. Dass die Nachfrage mit voller Wucht zurückkehrt, war absehbar, doch die Kapazitäten sind begrenzt. Auch die Airlines im DACH-Raum müssen Flugpläne radikal stutzen – dabei hätten die mit Milliarden an Steuergeld aufgepäppelten Unternehmen dieses Geschäft dringend nötig. Wie andere Branchen leidet die Reiseindustrie an Personalmangel. Symbolträchtig ist eine Szene am Flughafen von Manchester: Ein Tui-Flug hat 30 Stunden Verspätung. Bodenpersonal ist nicht da. Damit es endlich losgehen kann, muss der Pilot selbst unter dem Applaus der Passagiere die Koffer verstauen.

Das Reisechaos nach der Coronakrise wird dennoch schnell vergessen sein. Längst tüfteln smarte Unternehmen am Transport der Zukunft – wir stehen vor ähnlichen Umwälzungen wie nach der Erfindung des Autos vor 125 Jahren. Dekarbonisierung wird zum leitenden Prinzip der Mobilität. Einzelbüro und Firmenwagen, früher Statussymbole, verlieren an Bedeutung. Die Grenzen zwischen Arbeits-, Reise- und Freizeit lösen sich zunehmend auf.

In Europa werden durch den Green Deal Milliarden in nachhaltige Projekte fließen. Transport und Verkehr müssen dabei Priorität haben – mit dem Bau von mehr Ladestationen ist es nicht getan. Die Politik muss schneller und mutiger auf die Innovationen aus der Wirtschaft reagieren. Ich denke an urbane Gondelsysteme, die Zulassung von Drohnen-Lieferverkehr, den Ausbau von E-Bike-Superhighways oder ein engmaschiges Netz an Nachtzügen – allein damit wäre schon viel erreicht. Zusammenhalt und Wohlstandsmehrung sind die zentralen Ver­sprechen Europas; beides können nur mobile und innovative Gesellschaften leisten.

Das Reisen ist eine ständige Erinnerung an die Dinge, über die wir staunen, hat Alain de Botton erkannt. Je früher wir dabei über die Mobilität von morgen staunen, desto besser.

Reinhard Keck

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