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German Bionic ist in der Entwicklung von Exoskeletten für die Industrie federführend: Das Unternehmen ist nicht nur der erste europäische Hersteller, der intelligente KI-basierte Kraftanzüge produziert, sein Produkt – der Cray X Smart Suit – ist zusätzlich das weltweit erste Exoskelett für die Arbeitswelt.
Sebastian Bethge arbeitet seit über 15 Jahren in der Gepäckverladung am Stuttgarter Flughafen. Dieser stellt seinen Mitarbeitern seit 2020 zwei Exoskelette der Firma German Bionic zur Verfügung. Bethge erzählt in einem Interview mit dem Nachrichtenkanal der Stuttgarter Zeitung auf Youtube im Jahr 2020 von seiner Erfahrung: „In den letzten Jahren haben meine Bandscheiben sehr unter dem Heben der schweren Koffer gelitten.“ Das Exoskelett Cray X hilft hier: Es hebt die Koffer nicht alleine auf, sondern verstärkt lediglich den Impuls, den der Nutzer gibt – betrieben wird das Exoskelett von zwei Elektromotoren, die beim Heben der Koffer beispielsweise den Oberkörper mit den Gurten nach hinten ziehen. „Das Gerät fühlt sich an wie ein großer, einengender Anzug, den man sich um Schultern, Bauch und Beine gurtet. Unter den Gurten schwitzt man stark, aber das Gerät entlastet die Bandscheiben enorm“, sagt Bethge.
Exoskelette verstärken menschliche Kompetenzen, ohne sie zu ersetzen. Ursprünglich für militärische und medizinische Anwendungen konzipiert werden sie zunehmend für den Einsatz in der Produktion, Montage und Logistik genutzt. Aber warum?
Rückenschmerzen gehören neben Kopfschmerzen zu den häufigsten körperlichen Beschwerden weltweit. Arbeitsbedingte Verletzungen, insbesondere Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE), erzeugen enorme Kosten für Unternehmen und Gesundheitssysteme und sind die Hauptursache für Arbeitsausfälle. Laut einer Studie des Helmholtz Zentrums in München führt das allein in Deutschland zu Kosten von circa 49 Mrd. € pro Jahr. Um die immense Krankheitslast in industriellen Unternehmen zu vermeiden, hat der deutsche Robotikspezialist German Bionic das Exoskelett Cray X entworfen.
Die Stützstruktur Cray X gibt es nun schon in fünfter Generation. Sie ist entwickelt worden, um Menschen, die physisch schwere Arbeit leisten – vor allem im Bereich der Montage und Logistik –, zu entlasten. Mit einer aktiven Unterstützung von bis zu 30 Kilo pro Hebevorgang soll Cray X die körperliche Belastung der Mitarbeiter bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten reduzieren. „Das Cray X bietet gezielte Unterstützung im Rücken. Wir haben gesehen, dass es das ist, was die Industrie am meisten nachfragt“, sagt Armin G. Schmidt, Mitgründer und CEO von German Bionic.
Das 80-köpfige Team von German Bionic – bestehend u. a. aus Physiotherapeuten, Biomechanikern und Robotikspezialisten – wird angeführt vom Gründertrio Armin G. Schmidt (CEO), Peter Heiligensetzer (CTO) und Michael Halbherr (Chairman). Schmidt ist Seriengründer und Experte auf dem Gebiet cloudbasierter Produkte, sein Cousin Peter Heiligensetzer ist Robotikexperte und Spezialist für Mensch-Roboter-Kooperation. Der Dritte im Bunde, Michael Halbherr, ist seit über drei Jahrzehnten in leitenden Positionen führender Tech-Unternehmen tätig. Ihre Erfahrung, ihre Expertise und ihr Wunsch, Menschen aktiv mit moderner Technologie zu unterstützen, führten sie im Jahr 2017 zusammen.
Als sie die Firma 2017 gründeten, bestand das Exoskelett aus reiner Mechanik. Das Gerät funktionierte, aber man konnte nicht wirklich nachweisen, inwiefern es Wirkung erzielt. „Erst seitdem das Gerät smart ist, können wir Messungen anstellen und tatsächlich beweisen, dass das Cray X zu mehr Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz führt“, sagt Armin Schmidt. Das integrierte KI-System sammelt Echtzeitdaten – datenschutzkonform und anonym –, anhand derer sich die Wirkung des Cray X messen lässt. So konnte die Systemlösung laut German Bionic bei den Kunden bereits 6.899 Krankheitstage reduzieren und rund 6,3 Mio. € an krankheits- bzw. verletzungsbedingten Kosten einsparen.
Die aktuelle Exoskelett-Generation – die fünfte in Folge – ist seit Anfang 2022 auf dem Markt und kann den Nutzer neben der Hebeunterstützung auch aktiv beim Gehen und Laufen unterstützen. Zudem ist das neue Cray X wasser- und windabweisend und verfügt über ein 40-Volt-Energiemanagementsystem sowie einen Onboarding-Assistenten.
„Jeder kennt jemanden, der Rückenprobleme hat – das wollen wir in Angriff nehmen.“
Armin G. Schmidt
Wie iPhones von Apple oder Autos von Tesla kann das Cray X seit Mai 2021 Funktions-Updates „over the air“ durchführen. Das eigens entwickelte Betriebssystem German Bionic OS macht dies möglich: Es verbindet die Kraftanzüge über Funk mit einer Cloud. Ein weiteres neuartiges Feature ist der Smart Safety Companion: Das Ergonomie-Frühwarnsystem soll auf Grundlage von KI und maschinellem Lernen für mehr Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sorgen. „Der Companion sagt dir zum Beispiel, wann du eine Pause einlegen solltest oder ob ein gewisser Hebevorgang ungesund ist. Er begleitet den Nutzer bei seinen Tätigkeiten und sammelt dazu Daten – am Ende des Tages sagt einem das Gerät etwa, wie viele Elefanten man heute hochgehoben hat“, erläutert Schmidt. (Laut eigenen Angaben entlastet das Cray X den Nutzer mit bis zu zwölf Tonnen am Tag – das entspricht dem Gewicht zweier Elefantenbullen.)
German Bionic und seine Technologien entwickelten sich in den letzten Jahren rasant. Das Augsburger Unternehmen expandierte 2018 nach Japan, später in die USA (Boston) und neuerdings – seit Anfang des Jahres 2022 – nach England. Um diese Expansion und die Entwicklung des Smart Suits effizient vorantreiben zu können, sammelte German Bionic bei seiner letzten Finanzierungsrunde (2020) 20 Mio. US-$ ein. Diese wurde angeführt von Samsung Catalyst, MIG AG und Storm Ventures.
Zum Kundenportfolio von German Bionic zählen neben dem Stuttgarter Flughafen u. a. der schwedische Möbelhersteller Ikea sowie die Paketdienstleister DPD und Hermes. Dabei vermietet German Bionic seinen Kunden das Produkt im RaaS-Modell (Robotics as a Service) ab 599 € monatlich. Laut Unternehmensangaben verdreifachte sich das Auftragsvolumen im Jahr 2021; konkrete Aussagen zum Umsatzvolumen will das Unternehmen aber nicht tätigen.
Das globale Marktvolumen für Exoskelette wird von Experten bis zum Jahr 2030 auf über 20 Mrd. US-$ geschätzt. Eine weitere Vorreiterrolle im Bereich industriell einsatzfähiger Exoskelette übernimmt das ebenfalls deutsche Unternehmen Ottobock mit Sitz in Niedersachsen: Das ursprünglich mit Prothesen und orthopädischen Produkten bekannt gewordene Unternehmen ging 2018 mit seinem Exoskelett Paexo Shoulder auf den Markt. Paexo Shoulder unterstützt Nutzer vor allem bei Überkopfarbeiten. Mittlerweile bietet Ottobock neben Paexo Shoulder auch Paexo Back (äquivalent zum Cray X), Paexo Thumb, Paexo Wrist etc. an. Im Jahr 2019 knackte das Unternehmen die Milliarden-Umsatzmarke. Im Vergleich zum Cray X sind die Produkte von Ottobock nicht vollständig vernetzt, zudem handelt es sich bei den Paexo-Produkten um passive Exoskelette (diese benötigen keine externe Energieversorgung), während das Cray X aktiv mit Energie versorgt werden muss.
Für seine innovative Technologie wurden German Bionic und das Cray X vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bayerischen und Deutschen Gründerpreis, dem Hermes Award und dem Good Design Award aus Japan. Trotz aller Lorbeeren sieht Armin Schmidt noch Entwicklungspotenzial im Unternehmen: „Ich glaube, wir geben uns nie zufrieden mit dem, was da ist. Die Herausforderung wird weiterhin sein, das richtige Team zu beschäftigen und die Software so weiterzuentwickeln, dass sie einen Mehrwert in der Evolution von Exoskeletten bietet.“ Schmidt spricht von „Verticals“, wenn er über die Zukunft des Unternehmens spricht: Laut ihm befindet sich German Bionic aktuell im Vertical Industrie. „Das nächste Vertical könnte die Pflege sein, da gibt es viel Potenzial für den Einsatz von Exoskeletten. Hier forschen wir bereits gemeinsam mit der Charité in Berlin. Danach kommt sicher der Freizeitbereich – Skifahren, Radfahren oder Laufen, überall kann man Exoskelette einsetzen, um vorbeugend Gebrechen zu verhindern“, so Schmidt.
Dass Exoskelette die durch das Tragen und Heben schwerer Gegenstände verursachten Schäden am menschlichen Körper reduzieren, ist auf kurze Sicht bewiesen. Allerdings weiß man noch nicht viel über die Langzeitfolgen der Benutzung von Exoskeletten. Kritiker fürchten, dass sie das Bewegungsverhalten verändern könnten und gewisse Körperregionen überlastet werden, während andere entlastet werden. Doch Schmidt ist sich sicher: „Ich persönlich bin überzeugt, dass wir, wenn wir in ein paar Jahren auf die Straße gucken, viele Menschen sehen werden, die irgendeine Art von Exoskelett anhaben – ob am Rücken, Bein oder an den Armen.“
Armin Schmidt
...ist Unternehmer und Experte für cloudbasierte Produkte und Services. Er gründete und leitete den Streamingservice Aupeo und die Automotive-Software-Plattform Advanced Telematic Systems (ATS). Aupeo verkaufte Schmidt an Panasonic, ATS wurde von Here Technologies (Eigentümer sind u. a. Nokia, VW, BMW, Daimler) übernommen. Vor der Gründung von German Bionic im Jahr 2017 war Armin Schmidt als Senior Director bei Here Technologies tätig.
Text: Naila Baldwin
Fotos: Jasmin Schuller, German Bionic
Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 3–22 zum Thema „KI“.