„HOLY SHIT, WE ARE ALIVE!“

Miki Agrawal hat mehrere Unternehmen gegründet, bekannt ist sie vor allem für Tushy und Thinx. Tushy verkauft Bidets, die man an die Klobrille montieren kann und Thinx Periodenunterwäsche, die Tampons ersetzt. Mit beidem will sie lange unangetastete Märkte revolutionieren, die Lebensqualität vor allem von Frauen erhöhen und die Umwelt schonen. Thinx hat sie nach Kontroversen entschieden, zu verlassen, auf Tushy liegt nun ihr Hauptaugenmerk.

Miki Agrawal ist Mutter von Sohn Hiro, Autorin und DJane gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Radha. Wir haben sie auf einer der Daybreaker-Partys in New York City getroffen. Auf einem Schiff geht’s den Hudson River rauf und runter.

Los geht die Party morgens um 8 Uhr – zu Tagesanbruch. Statt Alkohol gibt es gesunde Shakes, an der Bar liegen Äpfel und Bananen aus. Daybreaker hat in wenigen Jahren und trotz Pandemie Kultstatus erlangt. Das Publikum ist bunt gemischt, Kinder, Senioren, junge Menschen, Schwangere. Die Outfits glitzern. Am Eingang zum Schiff sitzen zwei als Meerjungfrauen verkleidete Frauen in einer aufblasbaren Muschel und begrüßen die Daybreaker. Sobald das Schiff am Pier 83 im Westen Manhattans ablegt, legen die Zwillingsschwestern Miki und Radha auf, Me two Me two heißt das Duo. Sie beenden ihr Set mit einer Premiere: Miki singt. Soulgaze heißt ihre neue Band, der Song „Do less, be more“. Tue weniger, sei mehr. Klingt nach einer Absage an die Leistungsgesellschaft und fast anti-kapitalistisch. Dabei ist sie natürlich eine Vollblutunternehmerin und dazu noch sehr erfolgreich. Agrawal selbst bezeichnet sich als Social Entrepreneur, also als Unternehmerin mit sozialen Zielen neben Gewinnmaximierung. Miki Agrawal ist ein Kraftpaket, sitzt selten still, wenn sie redet, fliegen die Hände und die Arme. Sie erklärt den Partygästen, sie sehe ihr Leben in Kapiteln: Im vergangenen sei sie, das Schwert in der Hand davon galoppiert. Und in ihrem kommenden Lebenskapitel solle es ruhiger zugehen. Schwer vorzustellen, dass sie mal ruht.

Sie haben mit Periodenunterwäsche und Bidets zwei Produkte entwickelt, die mit Tabuthemen zu tun haben. Sind Sie nicht mal auf die Idee gekommen zu sagen: „Ich verkaufe ein Produkt, bei dem es nicht um die Periode oder das Auf-die-Toilette-Gehen geht?
Das interessiert mich einfach nicht. Was mich interessiert, ist, die Kultur zu verändern, ein Um­denken zu erreichen, etwas Neues zu versuchen, anstatt etwas auf die alte, müde Art und Weise zu tun. Das ist der Traum eines jeden Kreativen. Ich liebe die Idee, dass Unternehmen die Gespräche verändern. Und ich glaube, dass private Unternehmen eine Kultur viel schneller verändern können als die Regierung. Wir sind ge­winnorientiertund ich glaube, dass bewusster Kapitalismus vieles verändern kann und wird. Und Dinge müssen oder sollten sich ändern.

Die Hälfte von uns hat eine Periode, jeder geht auf die Toilette. Und weil wir nicht darüber reden, bedeutet das, dass wir die Art und Weise seit 100 Jahren nicht geändert haben. Hygiene nach dem Toilettengang hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht geändert. Wir sprechen über Zoom und Wi-Fi und in dieser Minute,und wenn ich gleich in mein Badezimmer gehe, bin ich wieder im Jahr 1800. Und die Tatsache, dass wir nicht drüber reden wollen, bedeutet auch, wir sind nicht innovativ. Da sehe ich einen Markt. Es gibt so viele Möglichkeiten, eine 100 Jahre alte Mentalität zu ändern, indem man Kreativität, Innovation, den Wow-Faktor, das Geheimnisvolle und Wissen einsetzt. Und es gibt so viele Möglichkeiten, so viele Werkzeuge. Wir müssen als Unternehmer Dinge zum Besseren verändern.

Sie kombinieren diese teilweise abgefahrenen Ideen mit Know-how und richtigen Größen im Business – Sie haben sich prominente Unterstützung ins Boot geholt …
Genau, ich habe Jason (Ojalvo, Anm.) als meinen CEO von Amazon geholt und als COO Justin Allen. Ich kann ich selbst sein und jede Person, die dem Unternehmen beitritt, kann den ihr zustehenden Platz einnehmen und glänzen. Und das Unternehmen nach vorne bringen! Gemeinsam. Auf der einen Seite wollen wir alles wunderschön machen, aber verkauft das Design auch mehr Produkte? Es gibt also ein natürliches Spannungsverhältnis zwischen den Abteilungen. Ich bin wie ein DJ. Ich muss wissen, wie man die Ebenen verwaltet, damit sich alles glatt anfühlt. Und während wir unser Unternehmen ausbauen, durchläuft man natürliche Wachstumsschmerzen. Aber wir alle haben unsere Aufgabe. Ich träume, sie führen aus.

Es fühlt sich oft so an, als seien wir eine Gesellschaft, die alles hat. Wie oder wann haben Sie Ihre Ideen für Kampagnen, für Ihre Produkte? Wir haben für jedes Problem ein Werkzeug, für jede Kleinigkeit. Wie kann man also überhaupt noch etwas Neues schaffen?
Ich denke, der erste Trick ist, die Welt mit neugierigen Augen zu sehen, wie zum ersten Mal. Und ich glaube, dass die Menschen oft eine abgestumpfte Sicht auf die Welt haben und nicht genug Zeit für Kreativität bleibt. Weil man den ganzen Tag nur reagiert, auf die Nachrichten, auf E-Mails, auf das, was in den sozialen Medien passiert. Wir werden ständig bombardiert. Deshalb habe ich schon vor längerer Zeit damit begonnen, mir eine Art Denkzeit einzurichten.

Freitags habe ich also einen ganzen Tag zum Nachdenken. Mein Team weiß das und plant keine Anrufe oder Besprechungen. Ich habe deshalb nicht frei, sondern ich träume und kreiere und expandiere, statt zu reagieren. Ich träume, ich bin langsam. Ich plane meine Anrufe auch von Montag bis Donnerstag nur zwischen 10.30 und maximal 14.00 Uhr, damit ich möglichst viel Zeit am Nachmittag habe. Und ich halte es auch so, dass diese Gespräche nur 15 bis 30 Minuten dauern.

Und zwangsläufig, wenn wir uns diese Zeit geben, kommt die Kreativität zum Vorschein, denn wir sind alle kreativ, jeder einzelne Mensch. Wir gönnen uns nur keine Zeit oder keinen Raum, um das zu sein. Und ich glaube, die Leute gehen oft sehr ineffizient mit ihrer Zeit um, weil sie am Telefon sind, eine Sendung sehen und sich einfach nicht gut konzentrieren. Meine Eltern haben mir das beigebracht. Den vollen Fokus. Viel Arbeit in einer kurzen Zeit zu erledigen.

Wie präsentieren Sie Investoren oder Konsumenten diese teilweise verrückten oder ungewöhnlichen Ideen – die potenziell viel rationaleren Nutzer?
Wir müssen ihnen diese Fragen beantworten können. Warum ist das interessant? Warum ist das wichtig? Wer redet sonst noch darüber? Was verpasst du gerade? Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, dass eine Beziehung nur dann stark ist, wenn man immer ein kleines Geheimnis bewahrt, richtig? Wie kann man ein – also auch um ein Produkt herum – kleines Geheimnis schaffen? Es muss immer eine Einladung sein.

Bei Tushy, bei den Bidets zum Beispiel geht es nicht darum, zu sagen, es ist eklig, wenn du das nicht benutzt, sondern eher darum, zu sagen, dass du dir etwas entgehen lassen würdest. Ich denke, es ist wie eine fesselnde Verführung. Es ist wie ein Spiel, das deine Neugierde weckt und dich fragen lässt: „Oh mein Gott, was verpasse ich?“

Haben Sie ein Mantra oder einen Satz, den Sie zu sich selbst sagen, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen?
Ja. Ich mache nur so schnell wie der langsamste Teil von mir hinterherkommt. Wenn mein Herz rast, aber mein Kopf langsam ist, verlangsame ich alles. Was ist der langsamste Teil von mir? Manchmal habe ich alle Energie der Welt, die ich brauche, und es geht mir gut, und ich brauche nicht langsam zu machen.

Und an manchen Tagen ist es so, dass ich einfach pausieren muss. Ich denke also, der wahre Schlüssel ist das Bewusstsein. Wo stehe ich heute? Was brauche ich? Ich möchte für mich selbst sorgen, bevor ich in die Welt hinausgehe und mich in Abenteuer stürze. Radikale Selbstfürsorge und Selbstvertrauen.

Für mich ist klar: Ich lasse mich jede Woche stundenlang massieren. Ich mache jede Woche 90 Minuten Akupunktur. Und dann mache ich vier Tage in der Woche Sport. Ich habe eben Pilates-Krafttraining gemacht. Morgen ist Kickboxen dran. Dann Yoga. Und dann sorge ich auch dafür, dass ich Zeit mit meinem kleinen Hiro verbringe, meinem Sohn, der unglaublich ist.

Die andere wichtige Sache ist die Präsenz. Wenn wir versuchen, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, funktioniert es einfach nicht. Sogar jetzt gerade, ich schicke schnell diese eine SMS ab, bevor wir beide sprechen, damit ich dann ganz bei Ihnen sein kann. Ich habe schon versucht, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Und es ist einfach respektlos gegenüber allen um mich herum und ich fühle mich wirklich schlecht. "Es macht keinen Spaß, mit mir zusammenzuarbeiten, wenn ich überfordert bin.“

Agrawal mit Tushy-CEO Jason Ojalvo (rechts) und Tushy- Mitgründer und Tushy-COO Justin Allen (links).

Von außen wirken Sie wie ein Stehaufmännchen, Sie kämpfen sich durch, selbst in Ihrem eigenen Unternehmen, bei Thinx, wo sie wegen Streitigkeiten dann auch gegangen sind. Wie gehen Sie mit Scheitern oder Versagen um?
Ja, ich habe eine Menge schwieriger Momente erlebt. Aber ich sage immer das Wort Versagen ist falsch. Eigentlich ist es so, dass man lernt und wächst. Das Wort, das ich anstelle von Scheitern oder Versagen verwende, ist Offenbarung. Ich meine, ich scheitere wahrscheinlich jeden Tag, sei es in meiner Führungsrolle oder in einer Kampagne, von der wir dachten, sie würde funktionieren, oder in einem Fundraising, von dem wir dachten, wir würden es höher abschließen, aber nun hat sich der Investor zurückgezogen. Es gibt jeden einzelnen Tag Misserfolge. Und ich denke, dass man kein Unternehmer sein kann, ohne zu scheitern.

Ich habe 30 Jahre lang Fußball gespielt. Meine allererste Liebe gilt dem Fußball, und jedes Spiel ist entweder ein Erfolg oder ein Misserfolg, entweder man verliert den Ball oder man bekommt den Ball oder man gibt den Ball ab, man muss nach jedem Spiel wieder aufstehen.

Ich habe bei meiner letzten Firma eine traumatische Erfahrung gemacht, die extrem herausfordernd, schmerzhaft und verletzend war.1 Ich orientiere mich nicht am Scheitern. Wir werden alle sterben. Und mein Lebensmantra ist: „Heilige Scheiße, wir leben!“ Es ist einfach so: „Wow, ich DARF Versagen erleben.“ Ich muss den Schmerz und die Qualen dieser Momente erleben. Ich erlebe die Magie der Siege, der Dinge, die funktioniert haben, aber nach wessen Maßstäben sind das eigentlich Siege und Niederlagen? Wen kümmert das eigentlich? Für mich ist es so patriarchalisch. Es ist wie: Wer gewinnt?

Stattdessen weiß ich aber in schweren Zeiten, dass es so viel glatter und schöner und besser sein wird, wenn dieser Teil vorbei ist. Ich glaube, wenn Sie mich das vor zehn Jahren gefragt hätten, hätte ich das noch nicht so gesehen, da musste ich erst ankommen.

Laut einer Beschwerde, die Ende März 2017 von einer ehemaligen Mitarbeiterin eingereicht wurde, hatte Agrawal mutmaßlich einige Grenzen überschritten. Aufgrund von Vorwürfen der sexuellen Belästigung, die nach einer Untersuchung für nichtig erklärt und später ohne Eingeständnis von Fehlverhalten beigelegt wurden, trat Agrawal im März 2017 als CEO von Thinx zurück. „Es schmerzt mich sehr, dass ich Jahre meines Lebens damit verbracht habe, Frauen zu unterstützen und sie von der ältesten Schande der Welt – der Periode – mit einem wirklich bahnbrechenden Produkt zu befreien – und das, wonach ich noch immer gefragt werde, ist dieses Behauptung einer gekündigten Mitarbeiterin“.

Miki Agrawal...
...war Mitbegründerin von Thinx, einer Hightech-Marke für periodensichere Unterwäsche, und führte das Unternehmen als CEO zu einer Bewertung von über 100 Millionen Dollar und zu Fast Company’s Most Innovative Companies of 2017. Zuletzt gründete sie Tushy (www.hellotushy.com), ein Unternehmen, das den amerikanischen Toilettenmarkt mit einem Bidetaufsatz revolutionieren will.

 

Text: Sophie Schimansky
Fotos: TUSHY, Sasha Bianca

Sophie Schimansky,
Deputy Editor in Chief

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