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Als Samuel Mueller im Jahr 2009 Scandit mitbegründete, war er von zwei Dingen überzeugt: Geräte mit Kameras würden allgegenwärtig sein und Barcodes mit hochrelevanten Informationen könnten unser tägliches Leben verbessern. Diese Vision trieb ihn dazu, das Start-up für intelligente Datenerfassung zu gründen, das kürzlich in den Club der europäischen Einhörner aufgenommen wurde.
Als 2007 das erste iPhone auf den Markt kam, wollte Samuel Mueller wie viele andere das Gerät unbedingt kaufen. Das erste Smartphone von Apple hatte ein 3,5-Zoll-Display, einen Touchscreen und ein schlankes Design, das sich von den Geräten der Mitbewerber abhob. Doch wo andere ein neues, revolutionäres persönliches Gadget sahen, erkannte Mueller eine milliardenschwere Geschäftsidee. „Wir sahen die Möglichkeit, die Kameras von Smart Devices als Brücke zwischen der physischen und der digitalen Welt zu nutzen“, sagt der Schweizer Gründer. „Indem wir diese Brücke schlagen, können wir ein Internet der Dinge schaffen, das es uns ermöglicht, mit der gesamten Welt zu interagieren.“
Die Frage war: Wie könnte man dies nutzen, um das Leben von Verbrauchern und Unternehmen zu erleichtern? Und da kam Scandit ins Spiel. Die Software des Unternehmens ermöglicht es jedem kamerafähigen intelligenten Gerät, Barcodes zu lesen und Texte und Objekte mithilfe von Computer Vision zu erkennen. Heute wird die Scandit-Scansoftware auf über 150 Millionen Geräten, vom iPhone bis zum iPad, genutzt. Das in Zürich ansässige Unternehmen hat weltweit mehr als 1.700 Kunden aus den Bereichen Fertigung, Logistik und Einzelhandel.
Ein Beispiel: Die intelligente Datenerfassungsplattform von Scandit wird von DHL und der Schweizerischen Post genutzt, um Pakete zu identifizieren und zu sortieren (die Fahrer halten ihre Smart Devices über die Pakete, um mehrere Barcodes zu lesen und Echtzeitinformationen zu erhalten). Auch Deutschlands größte Drogeriemarktkette DM setzt die Software von Scandit in ihrer Mitarbeiter-App ein, die von 38.000 Filialmitarbeitern genutzt wird: Die App scannt die Regale und kann sofort die Verfügbarkeit von Vorräten, Inhaltsstoffe und Allergieinformationen auf einen Blick anzeigen.
Laut Mueller soll Scandit nicht nur großen Unternehmen helfen, sondern letztlich auch den Kunden selbst: „Der Endverbraucher war schon immer unser Maßstab, denn wenn wir keinen Mehrwert für den Endverbraucher schaffen, gibt es keinen Grund, unsere Dienste überhaupt an den Einzelhändler zu verkaufen.“ Mobile Shopping-Apps wie Yuka wenden sich an Scandit, um den Kunden zu ermöglichen, Lebensmittel und Kosmetika im Supermarkt zu scannen und eine Bewertung zu erhalten. „Wie oft waren Sie in der Vergangenheit in einem physischen Geschäft und standen vor einem Haufen von Produkten und haben sich gefragt, was Sie kaufen sollen?“, fragt Mueller. „Wir können diese physisch-digitale Lücke einfach beseitigen und einen Weg finden, den Prozess nahtloser zu gestalten.“
Als wir am Hauptsitz von Scandit in Zürich ankommen, wird klar, dass das Unternehmen nicht mehr nur ein Start-up ist. Es gibt genügend Platz für Hunderte von Mitarbeitern (obwohl viele noch von zu Hause aus arbeiten, als wir Scandit besuchen). Im Erdgeschoss empfängt den Gast ein bunter Gemeinschaftsbereich für Veranstaltungen und Workshops, im Obergeschoss befinden sich gläserne Büros (mit den Namen „Grand Scanyon“, „Alascan“, „Madagascan“) und eine große Gemeinschaftsküche. Und das ist nur ein kleiner Teil des Unternehmens, denn weltweit sind mehr als 450 Mitarbeiter (mit den Spitznamen „Scanewbies“ und „Scanosaurs“) von San Francisco über London bis Warschau beschäftigt.
Es ist ein großer Sprung von den bescheidenen Anfängen als Spin-off der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Mueller und seine Mitgründer Christian Floerkemeier und Christof Roduner starteten das Start-up im Jahr 2009 und überzeugten schnell die Investoren. Im Jahr 2014 sicherte sich das Unternehmen 5,5 Mio. US-$ von einer Gruppe von Technologieunternehmern. Es schloss schließlich 2017 eine Series-A-Finanzierungsrunde in Höhe von 7,5 Mio. US-$ ab, gefolgt von einer Series-B-Finanzierung in Höhe von 30 Mio. US-$ angeführt von GV (früher bekannt als Google Ventures). Erst kürzlich hat Scandit in einer Series-D-Finanzierungsrunde unter der Leitung des US-Investors Warburg Pincus weitere 150 Mio. US-$ erhalten. Damit reiht sich das Barcode-Scanning-Unternehmen in die Liga der europäischen Tech-Unicorns mit einer Bewertung von mehr als einer Mrd. US-$ ein. Laut Crunchbase gab es im Jahr 2021 86 neue europäische Einhörner.
Scandit hat noch nie vor seinen globalen Ambitionen zurückgeschreckt. Unternehmen wie Sephora, Toyota, Hermès und 7-Eleven sind bereits an Bord. „Uns war von Anfang an klar, dass wir uns nicht auf den Schweizer Markt beschränken durften, um unsere ursprüngliche Vision zu verwirklichen. Von Anfang an haben wir uns stark auf den nordamerikanischen Markt konzentriert“, erzählt Mueller. Dort erwirtschaftet das Unternehmen auch heute noch einen großen Teil seines Gesamtumsatzes, der sich seit 2020 jährlich verdoppelt hat (genaue Zahlen gibt das Unternehmen nicht bekannt). Der asiatische Markt – in den Scandit vor zwei Jahren eingestiegen ist – wird immer attraktiver; in diesem Jahr soll die Zahl der Mitarbeiter in Japan, Korea und Südostasien verdoppelt werden.
„Wir wollen alles, was es auf der Welt gibt, durch das Objektiv einer Kamera zugänglich machen, egal ob diese Kamera in meinem Smartphone, Tablet oder einer tragbaren Brille eingebaut ist“, sagt Mueller. Und fügt hinzu: „Eines Tages steckt diese Technologie auch in intelligenten Kontaktlinsen.“ Die Prognosen der Branche zeichnen ein vielversprechendes Bild: Laut Allied Market Research wird der weltweite Markt für automatische Identifizierung und Datenerfassung bis 2030 voraussichtlich 121 Mrd. US-$ erreichen. Dies wird vor allem durch die Zunahme von E-Commerce-Plattformen (mehr Pakete müssen sortiert werden) und den zunehmenden Einsatz von Smartphones zum Scannen von QR-Codes und zur Bilderkennung vorangetrieben. Zum Abschluss unseres Gesprächs fragen wir Mueller, wie er die Reise des Unternehmens zum Einhornstatus bewertet. „Es lässt einen innehalten“, sagt er – „und ist eine wichtige Bestätigung dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“
Samuel Mueller absolvierte seinen Master in Informatik und Finanzwirtschaft an der Universität Zürich, später promovierte er in Informatik an der ETH Zürich. Im Jahr 2009 war er Mitbegründer und CEO des Start-ups Scandit, das intelligente Datenerfassung anbietet.
Text: Olivia Chang
Fotos: Scandit
Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 2–22 zum Thema „Innovation & Forschung“.