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Franco Lanfur, Gründer des Wiener Start-ups VARS, macht das historische und architektonische Erbe Wiens mit Augmented Reality sichtbar. Die Technologie bietet enormes Potenzial im Tourismus – warum hat sie sich nicht schon längst durchgesetzt?
Franco Lanfur erinnert sich genau: Er spazierte durch das Wiener Stubentor und entdeckte ein Modell eines Nachbaus des Linienwalls, der berühmten Befestigungsanlage aus dem Jahr 1703. Kaiser Leopold I. ließ die Ziegelmauer errichten, um die Stadt gegen eine Revolte der antihabsburgischen Kuruzzen zu schützen. Lanfur überlegte: Wie wäre es, wenn man diesen inzwischen fast komplett verschwundenen Teil der Wiener Historie sichtbar machen könnte – mit den Mitteln moderner Technologie?
Drei Jahre ist dieser Spaziergang nun her, und er ist heute Teil des Gründungsmythos von VARS, einem österreichischen Start-up, das mit Augmented Reality die physische Welt erweitern will, damit Menschen sie dann neu entdecken können.
Lanfur, 30, wurde in Guatemala geboren und studierte Architektur an der Technischen Universität Wien. Historische Architekturstile aus Österreich und Europa faszinierten ihn früh. Dank seines Studiums hatte er Grundwissen über Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR), da beide Technologien zur Visualisierung von Bauprojekten eingesetzt werden. Doch Lanfur wollte mehr – er wollte Menschen die Möglichkeit geben, Städte aus verschiedenen Perspektiven neu zu erleben. Also gründete Lanfur VARS (Virtual and Augmented Reality Studio) mit seinem eigenen Kapital. Er begann, Bilder seiner AR-Entwicklungen auf Instagram zu posten, auf Anraten seiner Freundin.
In der Folge wurden Unternehmen schnell auf ihn aufmerksam – und gaben AR-Anwendungen bei ihm in Auftrag, auch Firmen aus dem Bildungssektor und dem Gesundheitswesen. Heute besteht VARS aus einem Team von vier Personen und zahlreichen Freiberuflern. Die Entwicklung einer maßgeschneiderten AR-App kostet ab 10.000 €.
Doch was ist AR genau und wie unterscheidet sie sich von VR? Virtuelle Realität wird rein mit elektronischen Geräten betrieben, etwa mittels Brillen oder Mobiltelefonen. Sie muss computergeneriert, interaktiv und auch immersiv sein, erklärt Hannes Kaufmann, Professor für AR und VR an der Technischen Universität Wien. Die Definition von Augmented Reality hingegen umfasse die Echtzeitverschmelzung von realer und virtueller Welt – und verzichtet auf Immersivität, sollte aber interaktiv sein; etwa indem man durch die Stadt spaziert und historische Gebäude digital sichtbar und erlebbar macht.
Augmented Reality wurde durch das Game „Pokemon Go“ populär, auch in der Ikea-App etwa hilft die Technologie bei der Einrichtung. Doch Lanfur glaubt, dass die Möglichkeiten von AR im Tourismus noch kaum ausgeschöpft sind, zumal dieser auch in Städten als Wirtschaftsfaktor weiter zulegen wird – bis 2025 soll die Freizeitindustrie laut Statista 12 % der österreichischen Wirtschaftsleistung ausmachen.
Darum glaubt der VARS-Gründer, dass seine digitalen Erlebnisprodukte weiter gefragt sein werden. Für AR-Touren rekonstruiert Lanfurs Team historische Sehenswürdigkeiten als digitale 3D-Modelle und platziert sie genau dort, wo sie früher standen. So werden Vergangenheit und Gegenwart verbunden. Ein Beispiel: Die Wiener Maria-Magdalena- Kapelle wurde vor etwa 200 Jahren zerstört; das VARS-Team konnte sie auf der Basis alter Gemälde digital rekonstruieren. Richtet man die AR-App auf den Stephansdom, wird das historische Gebäude am selben Ort sichtbar.
Wissensvermittlung ist heute oft nicht mehr zeitgemäß. Geschichte ist lebendig, und das darf man bei uns erfahren
Miriam Weberstorfer
Die virtuellen Stadttouren hat VARS gemeinsam mit ArchäoNOW entwickelt. Die Firma der Archäobiologin Miriam Weberstorfer hat damit die Kulturvermittlung in Wien revolutioniert. Mithilfe von Smartphones können verloren gegangene Gebäude wiederauferstehen, und nicht zugängliche Objekte wie Reliquien aus dem Stephansdom wandern quasi in die eigenen Hände; geheimnisvolle Gräber öffnen sich, virtuelle Totenschädel können untersucht werden. Auch bieten die AR-Stadttouren von ArchäoNOW derzeit eine virtuelle Gespensterjagd an historischen Richtstätten oder digitale Rätselrallys durch die Hofburg; selbst eine immersive erotische Spurensuche durchs alte Wien gibt es. „Wissensvermittlung ist heute oft nicht mehr zeitgemäß. Wir verändern und bereichern die Kulturvermittlung, indem wir einen pädagogischen Mehrwert schaffen – auf dem höchsten Stand der Technik. Geschichte ist lebendig, und das darf man bei uns erfahren“, sagt Weberstorfer.
Noch ist AR im Tourismus aber noch nicht stark verbreitet, denn die Technologie ist teuer und komplex. Viele Investoren und Entwickler hat das abgeschreckt. „Das Wichtigste ist die Lokalisierung, das Tracking, denn wir müssen einfach wissen, wo die Benutzer und die Objekte sind“, sagt Experte Hannes Kaufmann. Derzeit experimentiert er mit hochpräzisem GPS, das im Freien eine Genauigkeit von ein bis zwei Zentimetern erreicht – und dadurch die immersive Erfahrung deutlich verbessert.
Aber für touristische Anwendungen ist die Technik problematisch, weil direkte Verbindungen zum Satelliten zwischen Häusern nicht immer möglich sind. Ein Problem ist auch die enorme Rechenleistung beim sogenannten Rendering: „Man muss etwas visualisieren, den Leuten etwas zeigen, und dafür braucht man einen schnellen Computer, da man sehr schnell qualitativ hochwertige Bilder erzeugen muss“, erklärt Kaufmann. Kleine VR-Brillen haben noch nicht die nötige Rechenpower. Eine mögliche Lösung, nämlich Bilder aus der Cloud zu streamen, ist noch zu langsam. VARS und ArchäoNOW verwenden daher Smartphones; bislang die beste Lösung.
Google und Oculus, das zum Meta-Konzern gehört, investieren Milliarden, um den AR- und VR-Markt zu erschließen. Google Glass, mit großen Hoffnungen vorgestellt, konnte sich nie durchsetzen; Microsofts Hololens wollte das US-Militär nicht haben, weil es mit der Qualität nicht zufrieden war. Forscher Kaufmann meint, dass die Technologie noch nicht weit genug ist, damit AR Mainstream wird. Er vermutet, dass es vielleicht nie einen Massenmarkt dafür geben könnte, weil die Technologien zusätzlich und nicht als Ersatz für Mobiltelefone oder Computer verwendet werden.
AR-Pionier Lanfur sieht das anders: „Ich denke, dass es durch AR möglich sein wird, die vielen Bildschirme, mit denen wir uns umgeben, loszuwerden und sie in eine Brille zu integrieren“ – und dass mittels Technologie Vergangenheit und Gegenwart weiter verschmelzen. Vielleicht lässt Lanfur irgendwann auch Leopolds Linienwall wiederauferstehen. Aber natürlich nur in der virtuellen Welt.
Fotos: VARS und Florian Wieser