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Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist überall da, wo bewaffnete Konflikte zu Leid führen. Aktuell gibt es mehr zu tun denn je, doch die Organisation kämpft mit Finanzproblemen. Seit einem Jahr ist Mirjana Spoljaric Egger als erste Frau Präsidentin des IKRK. Sie muss trotz steigender Krisenherde Geld sparen. „Es ist komplex, aber möglich“, so die Diplomatin.
Vor genau 160 Jahren, im Jahr 1863, trafen sich fünf Männer in Genf. Unter ihnen waren ein Jurist, zwei Ärzte, ein Armeegeneral sowie ein Geschäftsmann. Letztgenannter trug den Namen Henry Dunant und hatte ein Jahr zuvor ein Buch veröffentlicht, in dem er eine bessere Versorgung für verwundete Soldaten in Kriegszeiten forderte. Aus dem Treffen entstand ein Komitee, das heute den Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) trägt. Es ist weiterhin in Genf tätig und beschäftigt sich bis heute mit einem großen Ziel: „dem Schutz und der Unterstützung für Betroffene bewaffneter Konflikte und Kämpfe“, wie es auf der Website des IKRK heißt. Einzig die Dimensionen sind seit den Zeiten von Henry Dunant, der heute als Gründer der Organisation gilt, gewachsen: Heute ist das IKRK in über 100 Ländern aktiv und beschäftigt insgesamt 21.000 Personen.
Bis heute kommt dem IKRK eine Sonderrolle zu: Aufgrund der dritten Genfer Konvention, die 1929 beschlossen wurde, hat das IKRK verschiedene Mandate: die Überwachung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts; die Pflege und Versorgung von Verwundeten; die Überwachung der Behandlung von Kriegsgefangenen sowie ihre Versorgung; die Familienzusammenführung sowie die Suche nach vermissten Personen (Suchdienst); der Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung; sowie die Vermittlung zwischen Konfliktparteien.
Seit Oktober 2021 führt die Schweizer Diplomatin Mirjana Spoljaric Egger die gemeinnützige Organisation als Präsidentin – als erste Frau in diesem Amt. Zu tun gäbe es für die Präsidentin jedenfalls genug: Neben schon länger andauernden bewaffneten Konflikten und Kriegen brach 2022 mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ein weiterer Konflikt aus. Und: Im Herbst 2023 eskalierte der schwelende Konflikt zwischen Israel und der Hamas. „Wir sehen, rein statistisch gesehen, eine Häufung von bewaffneten Konflikten“, sagt Spoljaric Egger im Interview mit Forbes. „Und zwar in einem Ausmaß, das die vergangenen Jahrzehnte übersteigt.“
Beschäftigung gibt es also reichlich. Doch Spoljaric Egger hat nicht nur mit globalen Krisenherden, sondern auch mit internen Herausforderungen zu kämpfen. Denn das IKRK hat ein Geldproblem: Seit 2021 verdoppelte sich das Budget der Organisation auf zuletzt 2,8 Mrd. CHF. Doch dieses Budget ist für das IKRK aktuell nicht finanzierbar. Kritiker sagen, die Organisation sei zu schnell gewachsen und hätte den Fokus verloren. Der Schweizer Bundesrat unterstützte mit einem Zusatzkredit von 50 Mio. CHF, die Covid-19-Darlehen dürfen zudem langsamer zurückgezahlt werden. Dennoch muss die Struktur günstiger werden – weltweit werden etwa 1.500 Stellen gestrichen, am Hauptsitz in Genf werden 270 Jobs abgebaut. Es ist eine Aufgabe, die Spoljaric Egger zwar geerbt hat, die sie aber dennoch meistern muss. „Es ist komplex, aber ich denke, es ist möglich“, sagt die Diplomatin auf die Situation angesprochen.
Spoljaric Egger spricht überlegt und klar, es wirkt fast, als würde sie jedes Wort abwägen. Und doch kommt im Gespräch, das sich um Israel und die Ukraine, um Neutralität und Unparteilichkeit und über Grenzen der humanitären Hilfe dreht, doch eine tiefe Verbundenheit zur eigenen Arbeit und jener des IKRK durch.
Forbes: Wie schätzen Sie die Situation in Israel bzw. in Gaza ein? Ist der Konflikt nur ein Brandherd unter vielen?
Mirjana Spoljaric Egger: Es ist tatsächlich so, dass wir uns im Moment aus verschiedenen Gründen stark auf die Situation im Nahen Osten fokussieren. Zum einen, weil natürlich ein direkter Angriff auf Zivilpersonen nicht akzeptabel und in keinster Weise mit dem internationalen Völkerrecht, für das wir einstehen, vereinbar ist. Deswegen müssen wir sofort alle Parteien aufrufen, die Rechte der Zivilbevölkerung zu garantieren – insbesondere der Personen, die als Geiseln genommen wurden.
Wir setzen uns auch dafür ein, dass wir humanitären Zugang zu den Tausenden, wenn nicht Millionen betroffenen Zivilpersonen bekommen. Das ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Das ist eine Krise, die sich über bereits bestehende Krisen von außerordentlichem Ausmaß legt, beginnend mit dem bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und den Ereignissen im Sudan. Wir haben immer weniger Möglichkeiten, diesen Krisen adäquat zu begegnen. Deswegen müssen wir uns noch stärker denn je dafür einsetzen, dass das Völkerrecht eingehalten wird. Das ist auch für mich eine enorme Verantwortung als Präsidentin einer Organisation, die eigentlich dafür gegründet wurde, gerade in solchen Situationen nicht nur ein neutraler Vermittler zu sein, sondern auch vor Ort zu sein und tatsächlich Hilfe zu leisten.
Wenn Sie sagen, dass Sie nicht mehr die Mittel haben, diesen Krisen zu begegnen: Meinen Sie das IKRK oder die Welt per se?
Die ganze Weltgemeinschaft wird durch diese bewaffneten Krisen überfordert. Es liegt nicht nur am Finanziellen, sondern auch an der Erreichbarkeit der Personen. In Gaza und Israel ist es keine Frage des Materials – wir hätten die Möglichkeit, Hilfe zu leisten. Aber wir kommen aus Sicherheitsgründen nicht durch.
Werden die Krisen nicht nur häufiger, sondern auch dramatischer?
Rein statistisch gesehen beobachten wir eine Häufung von bewaffneten Konflikten in einem Ausmaß, das jenes der vergangenen Jahrzehnte übersteigt. Die Zahl solcher Krisen hat in den vergangenen Jahren von weltweit 30 auf heute 90 zugenommen. Im Zuge der technischen Möglichkeiten und der globalen Vernetzung kann man außerdem beobachten, dass die Folgewirkungen sich heute viel schneller ausbreiten. Die Energie- und Nahrungsmittelkrise als Folge des Konflikts in der Ukraine hat Auswirkungen auf die Versorgungslage im Nahen Osten und in Teilen Afrikas, das ist fatal.
Genauso sehen wir die Möglichkeit einer regionalen Ausweitung in Israel und Gaza. Das sind, auf Englisch, die sogenannten Spill-overs, die im Moment dazu führen, dass viele Menschen sehr schnell mitbetroffen sind, selbst wenn sie sich in komplett anderen Regionen der Welt befinden. Hierüber legt sich der Effekt des Klimawandels, viele Konflikte verschärfen sich dadurch, dass kein Wasser mehr vorhanden ist und die Landwirtschaft zusammenbricht. Dramatisch ist das in Regionen, in denen 80 % der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig sind. Diese Vernetzung von Herausforderungen muss durchbrochen werden, und das kann nur durch politische Vereinbarungen erreicht werden. Die Politik ist jetzt gefordert.
Wir sind mit der Situation konfrontiert, dass wir kaum oder kein Geld haben, weil wir viele Krisen gleichzeitig bewältigen müssen.
Mirjana Spoljaric Egger
Einer der Grundsätze des IKRK lautet „Neutrality“. Wie schwierig ist es, diese Rolle in bewaffneten Konflikten einzunehmen – insbesondere, wenn es eine eindeutige Richtung der Aggression gibt?
Wir sind als Internationales Rotes Kreuz neutral, unabhängig und unparteilich, egal wo. Wir sprechen immer, zu jeder Zeit, mit allen Parteien, um Hilfe dorthin zu bringen, wo sie am dringendsten benötigt wird und vor allem auch dort, wo sonst niemand hinkommt. Dieses Vertrauen wurde über 160 Jahre aufgebaut. Wenn wir diese Neutralität einmal aufgeben, werden wir nie wieder zu diesem Status zurückkehren können. Unsere Neutralität ist wirklich eine Conditio sine qua non.
Sie sind nicht nur von externen Krisen betroffen, sondern auch intern. Es wirkt, als wäre die Arbeit des IKRK wichtiger denn je, gleichzeitig kämpft die Organisation mit ihren Finanzen, Mitarbeiter werden gekündigt, um gewisse Budgetvorgaben zu erfüllen. Wie schwierig ist dieser Balanceakt?
Es ist die der Führungskraft inhärente Eigenschaft, sicherzustellen, dass der Kompass erhalten bleibt, und auch in Situationen, in denen wir kurz-, mittel- und langfristig denken müssen, immer das Gefühl erhalten bleibt, dass wir am Vorstoß sind. Wir sind momentan mit der Situation konfrontiert, dass wir kaum oder gar kein Geld auf dem Konto haben, weil wir viele Krisen gleichzeitig bewältigen müssen. Wir sind dran, eine neue Strategie zu entwerfen, und müssen Umstrukturierungen vornehmen, damit wir langfristig unsere finanzielle Stabilität erhalten können. Es ist komplex, aber ich denke, es ist möglich. Wir können uns Fehler leisten, doch nicht den Fehler, dass das IKRK nicht mehr in der Lage ist, zu agieren. Dafür sind zu viele Menschen von uns abhängig.
Wie wird die Organisation in ein paar Jahren aussehen?
Wir müssen mit dem humanitären Völkerrecht beginnen. Es wurde geschaffen, um sicherzustellen, dass Krieg kein rechtsfreier Raum ist. Regeln müssen eingehalten werden, um Zivilpersonen und Kriegsgefangene zu schützen.
Und um die komplette Entmenschlichung einer Bevölkerungsgruppe zu verhindern, die es unmöglich machen würde, wieder zu einem friedlichen Zusammenleben zurückzukehren. Über die Einhaltung des humanitären Völkerrechts versuchen wir, die Kosten des Kriegs zu minimieren und einen Dialog aufrechtzuerhalten, der zu einer Normalität zurückführt. Diese Fähigkeiten müssen uns als IKRK immer bleiben. Natürlich müssen wir auch sicherstellen, dass wir so kostengünstig wie möglich agieren.
Kritiker sagen, das IKRK sei zu schnell gewachsen und hätte den Fokus verloren. Ist diese Kritik aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Ich habe das Amt vor einem Jahr übernommen, als der Krieg in der Ukraine schon einige Monate andauerte. Es war mir damals schon klar, dass die Möglichkeiten nach Covid und mit der Situation in Afrika und im Nahen Osten geringer sein werden. Unsere größten Geldgeber sind die westlichen Länder und mir war bewusst, dass sie den Umfang ihrer Finanzierung nicht beibehalten werden können. Ich muss aber vorwärts schauen und bin in der Verantwortung, auf die neuen Umstände zu reagieren. Heute hat sich das Umfeld in sehr kurzer Zeit radikal verändert, weshalb wir uns auf geringere Ressourcen einstellen müssen. Momentan müssen wir alles, was nicht unmittelbare Priorität hat, zweitrangig behandeln. Wir müssen aber immer in der Lage sein, zu leisten, wo andere es nicht können.
Wie verhindern Sie, dass Sie angesichts der Gesamtsituation zynisch werden oder verzweifeln?
Das ist kein Thema für mich. Wenn man sich dem Leid bewusst ist, kann man nicht zynisch werden. Meine Aufgabe ist es auch, in einem gewissen Maß den Charakter und Geist dieser Organisation positiv vorzuleben. Es ist immer wichtig, wie die oberste Führungskraft wahrgenommen wird. Das hat direkten Einfluss auf die Motivation der Mitarbeitenden. Ich könnte und dürfte mir in dieser Rolle wahrscheinlich gar nicht leisten, verzweifelt zu sein.
Blicken Sie optimistisch in die Zukunft?
Ich bin immer optimistisch, sonst könnte ich diesen Job nicht machen.
Mirjana Spoljaric Egger wurde im heutigen Kroatien geboren und studierte Philosophie, Wirtschaft und Völkerrecht in Basel und Genf. Ab 2000 war sie als Diplomatin tätig, seit Oktober 2022 ist sie die erste Frau an der Spitze des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).
Fotos: Sebastien Agnetti